Kurt Hahn (1886-1974)

19,80 

Zum 50. Todestag herausgegeben im Auftrag der Altsalemer Vereinigung e. V.
von Marc Zirlewagen (Hrsg.)
Bei dem auf Initiative der Altsalemer Vereinigung erstellten Sammelband über den Reformpädagogen Kurt Hahn (1886 – 1974) kann das Fragezeichen entfallen. Dies machen die Beiträge von Henrik Fass, Angela Hartwig, Hans-Peter Heekerens, Michael Knoll, Werner Michl und Marc Zirlewagen deutlich. Sie lassen das Leben und Werk Hahns anlässlich seines 50. Todestags Revue passieren. Und das durchaus kritisch. So wird Hahns Leistung insbesondere für die Erlebnispädagogik zwar klar benannt aber auch aus heutiger Sicht auf den Prüfstand gestellt.

Lieferzeit: 3-4 Werktage

Artikelnummer: 978-3-96557-144-0 Kategorien: ,

Beschreibung

180 Seit­en
For­mat 15 x 21 cm
ISBN: 978-3-96557-144-0 (Soft­cov­er)

Zusätzliche Informationen

Ausführung

eBook, PDF-Download, Printausgabe

Rezensionen

Rezen­sion von Mag. Rainald Baig-Schnei­der auf social­net.

Weit­ere Infor­ma­tio­nen bei DNB KVK GVK.

Thema

Dieser Sam­mel­band wid­met sich dem Leben und Wirken des Reform­päd­a­gogen Kurt Hahn, Mit­be­grün­der der Schule Schloss Salem. Nach einem aus­führlichen Geleit­wort von Jörg Ziegen­speck fol­gen Beiträge von Marc Zir­lewa­gen, Michael Knoll, Angela Hartwig, Wern­er Michl, Hans-Peter Heek­erens und Hen­rik Fass. Die Autor:innen beleucht­en biografis­che, päd­a­gogis­che, poli­tis­che und zeit­geschichtliche Aspek­te in Hahns Biografie, sowie in seinen päd­a­gogis­chen Prinzip­i­en. Zudem wird seine Zusam­me­nar­beit mit Weggefährt:innen, exem­plar­isch anhand von Lina Richter the­ma­tisiert. Beson­ders her­vorzuheben ist die kri­tis­che Auseinan­der­set­zung mit den autoritären und kon­ser­v­a­tiv­en Zügen in Hahns Päd­a­gogik und sein ambiva­lentes Ver­hält­nis zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus.

„Die Beiträge lassen das Leben und Werk Hahns anlässlich seines 50. Todestags Revue passieren – und das dur­chaus kri­tisch. So wird Hahns Leis­tung, ins­beson­dere für die Erleb­nis­päd­a­gogik, zwar klar benan­nt, aber auch aus heutiger Sicht auf den Prüf­s­tand gestellt“ (Klap­pen­text).

Entstehungshintergrund

Der anlässlich des 50. Todestag von Kurt Hahn im Zielver­lag erschienene Sam­mel­band ist Band 63 der von Jörg Ziegen­speck begrün­de­ten Schriftrei­he „Weg­bere­it­er der mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik“. Die erste Pub­lika­tion dieser Rei­he erschien 1986 im, von Jörg Ziegen­speck gegrün­de­ten, Ver­lag Edi­tion Erleb­nis­päd­a­gogik anlässlich des 100. Geburt­stages von Kurt Hahn unter dem Titel „Ler­nen fürs Leben – Ler­nen mit Herz und Hand. Ein Vor­trag zum 100. Geburt­stag von Kurt Hahn (1886–1974)“. Der Sam­mel­band erscheint in zwei Rei­hen: ein­er­seits in der seit Band 62 vom Ziel Ver­lag her­aus­gegebe­nen Schriftrei­he „Weg­bere­it­er der mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik“, ander­er­seits als Band 4 der Rei­he „Beiträge zur Geschichte der Schule Schloss Salem“. Marc Zir­lewa­gen ist Her­aus­ge­ber dieses Sam­mel­ban­des sowie der let­zt­ge­nan­nten Reihe

Herausgeber und Autor:innen

Als Her­aus­ge­ber dieses Sam­mel­ban­des hat Marc Zir­lewa­gen Autoren ver­sam­melt, die maßge­blich zur inhaltlichen und organ­isatorischen Aus­gestal­tung der mod­erne Erleb­nis­päd­a­gogik beige­tra­gen haben und aus ihrem langjähri­gen Blick­winkel das Lebenswerk Kurt Hahns betra­cht­en. Ergänzend kom­men Autorin­nen dazu, die neue Per­spek­tiv­en und aktuelle Ein­blicke zur Ver­fü­gung stellen.

Jörg W. Ziegenspeck

Jörg W. Ziegen­speck hat mit seinem Lebenswerk die mod­erne Erleb­nis­päd­a­gogik entschei­dend geprägt. Er führte den Begriff ein, etablierte ihn inhaltlich und löste ihn aus der engen Fokussierung auf Kurt Hahn. Seine 1986 begonnene Schriftrei­he „Weg­bere­it­er der Erleb­nis­päd­a­gogik“ und seine Fest­stel­lung „die Wurzeln der Erleb­nis­päd­a­gogik liegen bei Wil­helm Dilthey und sein­er Begrün­dung der ein­er geis­teswis­senschaftlichen Psy­cholo­gie, in der das Erleben der eige­nen Zustände und das Ver­ste­hen des in der Außen­welt objek­tivierten Geistes als bei­de Möglichkeit­en des Men­sch­seins, die Wirk­lichkeit zu erfassen“ (Ziegen­speck, 1996a) markieren einen Par­a­dig­men­wech­sel. Mit dem „Hand­buch Erleb­nis­päd­a­gogik“ führte er das The­ma an den all­ge­meinen päd­a­gogis­chen Fachdiskurs her­an. Ziegen­speck legte mit seinen Bezü­gen zur geis­teswis­senschaftlichen Päd­a­gogik das Fun­da­ment für eine the­o­retisch fundierte erleb­nis­päd­a­gogis­che Begriffs­bil­dung und spielte auch in der insti­tu­tionellen Entwick­lung eine zen­trale Rolle (Fischer/​Ziegenspeck 2000, Ziegen­speck 1996a und 1996b).

Michael Knoll

Michael Knoll war von 1975 bis 1985 Lehrer und Men­tor an der Schule Schloss Salem. Als pro­fun­der Ken­ner Kurt Hahns veröf­fentlichte er zahlre­iche Arbeit­en über dessen Leben und Werk. Beson­ders her­vorzuheben sind seine Her­aus­ge­ber­w­erke, mit denen er viele englis­chsprachige Orig­inal­texte Hahns ein­er bre­it­en deutschsprachi­gen Öffentlichkeit zugänglich machte (Knoll 1986, Knoll 1998).

Wern­er Michl

Wern­er Michl zählt zu den prä­gen­den Per­sön­lichkeit­en der mod­er­nen deutschsprachi­gen Erleb­nis­päd­a­gogik. Sein Stan­dard­w­erk „Erleben und Ler­nen“ liegt mit­tler­weile in der 8. Auflage vor. Er ist Mit­be­grün­der der Fachzeitschrift „erleben & ler­nen“ sowie der gle­ich­nami­gen Buchrei­he. Seine zahlre­ichen Veröf­fentlichun­gen und sein Engage­ment in der insti­tu­tionellen Entwick­lung haben die Erleb­nis­päd­a­gogik maßge­blich vor­ange­bracht. Ohne sein Wirken wäre die Erleb­nis­päd­a­gogik heute nicht in dieser Form etabliert (Heckmair/​Michl, 2018, Michl, 2020).

Hans-Peter Heek­erens

Hans-Peter Heek­erens ver­fügt über eine langjährige the­o­retis­che und prak­tis­che Erfahrung in der Erleb­nis­päd­a­gogik. In seinen jüng­sten Pub­lika­tio­nen hin­ter­fragt er kri­tisch Nar­ra­tive und Mythen der erleb­nis­päd­a­gogis­chen Geschichtss­chrei­bung. Als ein­er der weni­gen deutschsprachi­gen Autoren macht er Net­zw­erke sicht­bar, die sowohl zu Lebzeit­en Kurt Hahns als auch darüber hin­aus Ein­fluss auf die Entwick­lung der Erleb­nis­päd­a­gogik hat­ten. Beson­ders bemerkenswert ist seine detail­lierte Unter­suchung, wann und wie der Begriff „Erleb­nis­päd­a­gogik“ Ein­gang in die deutschsprachige Lit­er­atur fand. Er zeigt auf, dass Kurt Hahn selb­st diesen Begriff nie ver­wen­dete. In den let­zten Veröf­fentlichun­gen beleuchtet er Hahns Umgang mit Frauen am Beispiel von Lina Richter und Mina Specht. Bei­de leis­teten bedeu­tende Beiträge zur Entwick­lung von Salem und Gor­don­stoun, wur­den von ihm aber nie in den Vorder­grund gerückt. Seine akribisch recher­chierten Arbeit­en liefern eine fundierte Grund­lage für eine fach­liche Neubeurteilung der Geschichte der mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik (Heek­erens 2019, Heek­erens 2021)

Marc Zir­lewa­gen

Marc Zir­lewa­gen gehört zur jün­geren Gen­er­a­tion der Autor:innen. In den let­zten Jahren hat er sich eine fundierte biografis­che und his­torische Exper­tise über Kurt Hahn und der Entwick­lungs­geschichte von Schloss Salem erar­beit­et. Er verbindet dieses Wis­sen mit aktuellen päd­a­gogis­chen Ansätzen und schlägt so eine Brücke in die Gegen­wart. Beson­ders wertvoll sind seine Arbeit­en zu dem bish­er in der deutschsprachi­gen Lit­er­atur weit­ge­hend aus­ges­parten Zeitraum des Nation­al­sozial­is­mus. Seine Pub­lika­tio­nen beleucht­en die ver­schiede­nen Posi­tion­ierun­gen und Hal­tun­gen inner­halb Salems zum Nation­al­sozial­is­mus. Sie machen vielschichtige Ambivalen­zen, Oppor­tunis­mus und die unter­schiedlichen Ver­hal­tensweisen in dieser Zeit sicht­bar. (Zir­lewa­gen 2022a, Zir­lewa­gen 2022b)

Angela Hartwig

Angela Hartwig ist als Urenke­lin von Salem-Mit­be­grün­derin Lina Richter eine neue Stimme in der erleb­nis­päd­a­gogis­chen Lit­er­atur. In ihrem 2024 erschiene­nen Buch „Der Pelikan – Das Leben der Lina Richter“ (Hartwig2024) zeich­net sie das Leben ihrer Urgroß­mut­ter nach und würdigt deren eigen­ständi­ge Rolle in der frühen Erleb­nis­päd­a­gogik. Gemein­sam mit Min­na Specht und Wal­traud Neu­bert spielte sie eine zen­trale Rolle in der frühen Erleb­nis­päd­a­gogik. Ihr Artikel verdeut­licht, dass die Erleb­nis­päd­a­gogik schon von Beginn an maßge­blich von Frauen und Män­nern geprägt wird (Hartwig 2024).

Hen­drick Fass

Hen­drick Fass ist seit März 2023 Schulleit­er der Inter­natss­chule Schloss Salem. Zuvor leit­ete er zehn Jahre lang die Schule Birkle­hof wo er u.a. das musis­che Pro­fil aus­baute und erleb­nis­päd­a­gogis­che Pro­gramme wie Out­ward Bound und den Duke of Edin­burgh Award ein­führte. Hen­drick Fass ist auch Mit­grün­der des bun­desweit­en Tal­ent­förder­pro­gramms plus-MINT Deutsch­land. In seinem Beitrag beschreibt er, wie die Päd­a­gogik der Grün­dungszeit heute in aktu­al­isiert­er Form weit­erge­führt wird. „In dieser bewegten Zeit glob­aler und europäis­ch­er Krisen ist Salem ein opti­maler Lebens- und Ler­nort, denn die Jugend erfährt hier im Geiste von Schul­grün­der Kurt Hahn Ver­ant­wor­tung mit Blick auf Demokratiebil­dung und Gemein­schaft“ (Pressemit­teilung Schloss Salem 2023).

Aufbau und Inhalt

Der Sam­mel­band bein­hal­tet neben einem umfan­gre­ichen Geleit­wort ins­ge­samt neun Artikel von sieben Autor:innen.

Jörg W. Ziegen­speck: Geleitwort

Im biografis­chen Teil beschreibt der Autor, wie er sich in den 1980er Jahren als junger Erziehungswis­senschaftler mit den Ideen Kurt Hahns auseinan­der­set­zte. Geprägt von sein­er eige­nen Schulzeit in der Nachkriegszeit, reflek­tiert er über die Her­aus­forderun­gen der Demokratisierung und die prob­lema­tis­chen Kon­ti­nu­itäten viel­er päd­a­gogis­ch­er Konzepte aus NS-Zeit. Hahns Ansätze boten ihm ein­er­seits wertvolle Ori­en­tierung, ander­er­seits aber auch Anlass zur kri­tis­chen Auseinan­der­set­zung. Beson­ders im Fokus ste­hen Hahns Ein­fluss auf mod­erne Bil­dung­sprozesse und die Kri­tik von Hart­mut von Hentig. Ziegen­speck stellt die Frage, ob Hahns Erziehungside­ale angesichts eines schwinden­den demokratis­chen Gestal­tungswil­lens heute noch zeit­gemäß sind. Die Auseinan­der­set­zung mit Hahn wird so zur Reflex­ion über Charak­ter­bil­dung, Sol­i­dar­ität und Ver­ant­wor­tung in der heuti­gen Gesellschaft.

Marc Zir­lewa­gen: Kurt Hahn – Eine biographis­che Notiz.

Marc Zir­lewa­gen gibt einen kom­pak­ten Überblick über das Leben und Wirken Hahns. Er beschreibt die Her­aus­forderun­gen, mit denen Hahn kon­fron­tiert war, und geht dabei auch auf dessen ambiva­lentes Ver­hält­nis zu Adolf Hitler und dem Nation­al­sozial­is­mus ein. Ergänzt wird der Beitrag durch die Nen­nung zahlre­ich­er Wegbegleiter:innen sowie ein­er Auflis­tung der Ehrun­gen und Würdi­gun­gen die Hahn zu Lebzeit­en erhielt.

Marc Zir­lewa­gen: Zeug­nisse über Kurt Hahn.

Hier wer­den ver­schiedene Aus­sagen über Kurt Hahn zusam­mengestellt, die unter­schiedliche Aspek­ten seines Schaf­fens beleucht­en – etwas die Grün­dung von Schloss Salem, seine Gedanken zur „Erziehung zur Ver­ant­wor­tung“ und das Konzept der „Erleb­nis­ther­a­pie“. Auch seine Ansicht­en zur Koe­duka­tion und zum Nation­al­sozial­is­mus wer­den the­ma­tisiert. Die präzise zitierte Auswahl ver­mit­telt den Leser:innen einen Ein­duck, wie Hahn wahrgenom­men wurde und wird.

Michael Knoll: Kurt Hahn- ein poli­tis­che Reformpädagoge.

Michael Knoll beleuchtet Hahns Lebensweg von der Jugend bis zu sein­er Rolle als inter­na­tion­al anerkan­nter Reform­päd­a­goge. Er zeigt, wie Hahn von einem poli­tisch inter­essierten jun­gen Mann zu ein­er päd­a­gogis­chen Per­sön­lichkeit wurde. Dabei wird auch Hahns Emi­gra­tion nach Eng­land dargestellt und die biographis­che Bedeu­tung ander­er Lebenssta­tio­nen nachgeze­ich­net. So wird der „bemerkenswerte Poli­tik­er und große Reform­päd­a­goge jüdis­chen Ursprungs“ (Golo Mann), der „später Christ und Englän­der wurde, in sein­er Bedeu­tung als Vertreter der inter­na­tionalen Friedens- und Sozialpäd­a­gogik“ (Ziegen­speck S. 22) vorgestellt. Am Ende wird Hahn als großer Päd­a­goge, kreativ­er Erzieher und genialer Organ­isator gewürdigt. Lei­der fehlen in dem Beitrag die Quel­lenangaben und damit die Möglichkeit­en der Quellenkritik.

Angela Hartwig: Kurt Hahn und die Fam­i­lie Richter.

Angela Hartwig beleuchtet die enge Verbindung zwis­chen Kurt Hahn und Lina Richter, die wesentlich zur Entwick­lung von Schloss Salem beitrug. Bere­its im Ersten Weltkrieg arbeit­ete Lina Richter mit Kurt Hahn zusam­men. Sie war an vie­len von Hahns reform­päd­a­gogis­chen Über­legun­gen beteiligt und ihre Zusam­me­nar­beit erstreck­te sich über Jahrzehnte. Sie trug wesentlich an der konkreten Umset­zung der päd­a­gogis­chen Konzepte bei. Der Beitrag hebt Richters eigen­ständi­gen Bedeu­tung her­vor und würdigt ihren Ein­fluss auf die frühe Erlebnispädagogik.

Wern­er Michl: Ver­wilderungswün­sche, Aben­teuer­lust und Gren­z­er­fahrun­gen – Anmerkun­gen zu Kurt Hahns Begriff der Erlebnistherapie.

Wern­er Michl stellt am Beginn seines Artikels Bezüge zwis­chen Kurt Hahns „Erleb­nis­ther­a­pie“ und der Tiefenpsy­cholo­gie bzw. der Reform­päd­a­gogik her. Während Freud Erleb­nisse als Ursache psy­chis­ch­er Trau­ma­ta sah, betra­chtete Hahn pos­i­tive Erfahrun­gen als Mit­tel zur gesellschaftlichen Erneuerung. Inspiri­ert von Her­mann Lietz entwick­elte er eine spez­i­fis­che Form eines Lan­derziehung­sheims, in dem Forschungs­geist, kör­per­lich­es Train­ing, Erziehung und Gemein­schaft kom­biniert wurde. Michl bezieht sich in weit­er­er Folge auf den von Hahn ab 1951 veröf­fentlicht­en Ansatz der „Erleb­nis­ther­a­pie“. Michl zeigt, dass Hahns Konzepte roman­tis­che Ide­ale mit prag­ma­tis­chen Meth­o­d­en verbinden und so „auf das echte Leben“ vor­bere­it­en sollen. Hahn betonte stets, ent­ge­gen der oft geübten Kri­tik der poten­ziellen Welt­fremd­heit, die Bedeu­tung real­er Her­aus­forderun­gen. Michl hält fest, dass viele sein­er Ansätze in der mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik und Bil­dung weit­er­hin rel­e­vant sind.

Hans Peter Heek­erens: Kri­tis­che Anmerkun­gen zu Kurt Hahn.

Hans Peter Heek­erens set­zt sich mit Kurt Hahn, ein­er „Per­sön­lichkeit des öffentlichen Lebens“, kri­tisch auseinan­der. Heek­erens hin­ter­fragt Wider­sprüche in Hahns Denken, etwa seine autoritären Züge und seine teil­weise kon­ser­v­a­tiv­en moralis­chen Vorstel­lun­gen. Diese kri­tis­che Auseinan­der­set­zung trägt dazu bei, ein dif­feren­ziert­eres Bild über Hahn zu gewin­nen. Auch Hahns Net­zw­erke wer­den in Auss­chnit­ten sicht­bar gemacht. Sein Beitrag ist in vier akribisch recher­chierten und auf eine Vielzahl von Quellen gestützt Abschnit­ten gegliedert. Im ersten lässt er Zeitzeu­gen zu Wort kom­men und diese weisen auf autoritäre, nation­al­is­tis­che und sex­ual­moralisch prob­lema­tis­che Aspek­te sein­er Päd­a­gogik hin. Im zweit­en Abschnitt the­ma­tisiert er das poli­tis­che Wirken Kurt Hahns und legt die bis weit in die Nachkriegszeit reichen­den Net­zw­erke frei. Den drit­ten Abschnitt wid­met er sich der prob­lema­tis­chen, bzw. der eigentlich gar nicht vorhan­de­nen, „Sex­u­alpäd­a­gogik“ Hahns. Im let­zten Abschnitt ste­hen seine Beziehun­gen zu Frauen im Zen­trum. Diese hat­ten im Hin­ter­grund einen großen Gestal­tungsraum und Ein­fluss, gle­ichzeit­ig wur­den aber die selb­st­ständi­gen Leis­tun­gen sein­er Wegge­fährtin­nen von Hahn nie in den Vorder­grund gerückt.

Hen­rik Fass: Kurt Hahn und Salem heute.

Hen­rik Fass beschreibt, wie Schloss Salem Hahns päd­a­gogis­che Prinzip­i­en heute weit­erträgt und gle­ichzeit­ig an mod­erne Anforderun­gen anpasst. Das Leit­mo­tiv „Erziehung zur Ver­ant­wor­tung durch Ver­ant­wor­tung“ bleibt erhal­ten, wird jedoch kon­tinuier­lich weit­er­en­twick­elt. Salem ver­ste­ht sich heute als Ler­nort, an dem Hahns Ideen nicht nur bewahrt, son­dern aktiv fort­ge­führt wer­den – etwa in der Demokratiebil­dung und durch Gemeinschaftserfahrungen.

Marc Zir­lewa­gen: 60 Jahre Kurt Hahn Archiv

Marc Zir­lewa­gen hebt die Bedeu­tung des Kurt-Hahn-Archiv und der dazuge­höri­gen Stiftung für die Bewahrung des Erbes Kurt Hahns her­vor. Das Archiv stellt umfan­gre­iche Mate­ri­alien für die Forschung zu Hahns Leben und Wirken bere­it. Die Stiftung selb­st unter­stützte seit ihrer Grün­dung über 650 Stipendiat:innen und trägt damit maßge­blich zur Umset­zung von Hahns Bil­dungsvi­son bei. Sie fördert nicht nur die Tra­di­tion­spflege, son­dern auch die Weit­er­en­twick­lung sein­er Konzepte im aktuellen päd­a­gogis­chen Diskurs.

Marc Zir­lewa­gen: 40 Jahre Tal­ente fördern und Zukun­ft stiften. Die Kurt Hahn Stiftung Marc Zir­lewa­gen betont, dass Kurt Hahns Ideen auch heute noch Rel­e­vanz besitzen – allerd­ings nur dann, wenn sie an die aktuellen Her­aus­forderun­gen angepasst wer­den. Der Sam­mel­band zeigt: Die Weit­er­en­twick­lung von Hahns Erbe ist eine dauer­hafte Auf­gabe, die jede Gen­er­a­tion neu gestal­ten muss.

Diskussion

Zu Beginn der Besprechung lässt sich inhaltlich gut an das Geleit­wort von Jörg Ziegen­speck anschließen: „Die Ver­gan­gen­heit in diesem Sinne ver­lebendigt zu haben, ist das große Ver­di­enst von Marc Zir­lewa­gen und den von ihm in diesem Sam­mel­band zusam­menge­führten Arbeit­en von kom­pe­ten­ten Autorin­nen und Autoren.“ (Ziegen­speck S. 26).

Der Sam­mel­band bietet eine fundierte, kom­pak­te und den­noch detail­re­iche Darstel­lung zen­traler Aspek­te von Hahns Leben und Wirkens im deutschsprachi­gen Raum. Die Darstel­lung basiert auf der bish­eri­gen deutschsprachi­gen Lit­er­atur. Darüber hin­aus wer­den auch aktuelle Umset­zun­gen sein­er Konzepte im Umfeld der Schule Schloss Salem diskutiert.

Kurt Hahn war ein pro­gres­siv­er Päd­a­goge in sein­er method­is­chen Ansätzen, ein wertkon­ser­v­a­tiv­er Denker in sein­er Hal­tung und ein inter­na­tion­al agieren­der Grün­der (vgl. Sta­bler 1986, Flavin 1996). Im Zen­trum dieses Sam­mel­ban­des ste­hen Hans päd­a­gogis­ch­er Hal­tun­gen, erschlossen auf Grund­lage sein­er schriftlichen Über­liefer­un­gen im deutschsprachi­gen Raum.

Hahn war aber weniger schreiben­der The­o­retik­er als vielmehr Ini­tia­tor, Pro­pa­gan­dist, Lob­by­ist und Net­zw­erk­er (vgl. Heek­erens S 121, Flavin1996, Friese 2000, Heek­erens 2019, Heek­erens 2021). Er ver­stand es, seine päd­a­gogis­chen Ideen pointiert zu for­mulieren und sie auf zahlre­ichen Spenden­reisen, Ver­anstal­tun­gen, in Vorträ­gen bzw. Artikeln bewer­ben. Damit bewegte er Men­schen zur Mitar­beit oder Finanzierung (vgl. Heek­erens S. 121, Hartwig, S. 86, Friese 2000, Heek­erens 2021) und kon­nte diese so in die Prax­is umsetzen.

Die konkrete inhaltliche und prak­tis­che Umset­zung in den von ihm ini­ti­ierten Insti­tu­tio­nen lag über weite Streck­en in den Hän­den ander­er (vgl. Heek­erens S. 127, Hartwig S. 86ff). Hahn wurde vielfach als gewin­nende und inspiri­erend Per­sön­lichkeit beschrieben zugle­ich jedoch auch als egozen­trisch, ungeduldig, drän­gend und fordernd erlebt. Einen Ein­blick in die Ambivalen­zen, die mit der Begeg­nung mit Kurt Hahn ein­herge­hen kon­nten, ver­mit­telt Angela Hartwig in ihrem Beitrag über Lina Richter (vgl. Hartwig S. 89). Es ist ver­mut­lich die Trinität von visionärem Pro­pa­gan­dis­ten, drän­gen­dem Umset­zer und kri­tis­chem Delegier­er, die sein beein­druck­endes Lebenswerk ermöglichte (vgl. Baig-Schnei­der 2024).

Dieser Sam­mel­band fol­gt dem von Kurt Hahn selb­st angestoße­nen deutschsprachi­gen Nar­ra­tiv ein­er von Salem aus kon­tinuier­lich entwick­el­ten, kohärenten Erleb­nis­ther­a­pie. Entwick­lun­gen und Umbrüche im angloamerikanis­chen Raum zwis­chen 1933 und 1948 sowie ab den 1950er Jahren find­en dabei nur wenig Berück­sich­ti­gung. Das bet­rifft ins­beson­dere die ver­schiede­nen Grün­dungsphasen, die jew­eils mit dynamis­chen päd­a­gogis­chen Schw­er­punk­t­set­zun­gen ein­hergin­gen, sowie die daraus resul­tieren­den insti­tu­tionellen Aus­prä­gun­gen. Ger­ade diese Unter­schiede führten jedoch zur vielgestalti­gen „inter­na­tionalen Erziehungsre­pub­lik“ (Knoll S. 70). Der Begriff Erleb­nis­ther­a­pie, der erst 1951 aufkam, hat im inter­na­tionalen Kon­text keine Bedeutung.

In den von Kurt Hahn begrün­de­ten Ein­rich­tun­gen waren, wie auch im Sam­mel­band erwäh­nt, stets zahlre­iche Per­sön­lichkeit­en aktiv an der konkreten Umset­zung beteiligt (vgl. ins­beson­dere Hartwig S. 86, Ziegen­speck S. 21, Heek­erens S. 127). Sie han­del­ten dabei eigen­ver­ant­wortlich und gestal­tend. Bere­its zu Hahns Lebzeit­en entwick­el­ten sich so dynamis­che Emanzi­pa­tions- und Weit­er­en­twick­lung­sprozesse auf struk­tureller und inhaltlich­er Ebene. Diese Entwick­lun­gen tru­gen wesentlich dazu bei, dass Hahns Ideen weltweit an aktuelle päd­a­gogis­che Her­aus­forderun­gen anknüpfen kon­nten. Sie waren daher auch struk­turell von großer Bedeutung.

Durch die starke Fokussierung auf die Vorstel­lung ein­er in Salem ent­stande­nen, schein­bar zeit­losen Erleb­nis­ther­a­pie wer­den diese Entwick­lun­gen im deutschsprachi­gen jedoch Raum nur am Rande wahrgenom­men. Entsprechend fließen die the­o­retis­chen und fach­lichen inter­na­tionalen Entwick­lun­gen bis heute nur wenig in die mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik ein. In der ergänzen­den Diskus­sion wird dieser Umstand anhand aus­gewählter Aspek­te des Sam­mel­bands detail­liert­er dargestellt.

Dieser Sam­mel­band ist auf­grund sein­er fach­lichen Tiefe und the­ma­tis­chen Bre­ite ein her­aus­ra­gen­des Werk für alle, die sich kom­pakt und den­noch dif­feren­ziert über das Wirken des Päd­a­gogen Kurt Hahn im deutschsprachi­gen Raum informieren möcht­en. Auf Grund­lage der bish­eri­gen rezip­ierten deutschsprachi­gen Lit­er­atur bietet er eine fundierte, präg­nante und zugle­ich facetten­re­iche Darstel­lung zen­traler Aspek­te von Hahns Leben und seinen Ein­fluss auf die deutschsprachige Erlebnispädagogik.

Ergänzende Diskus­sion: das deutschsprachige Nar­ra­tiv der Erlebnistherapie

Im Sam­mel­band wird über­wiegend von einem all­ge­mein gülti­gen, im Salem ent­stande­nen kohärenten Konzept ein­er Erleb­nis­ther­a­pie aus­ge­gan­gen (vgl. Knoll S. 68ff, Michl S. 101ff). Auf die Zeit Kurt Hahns in Großbri­tan­nien zwis­chen 1933 und 1953 wird nur am Rande, bei Zir­lewa­gen mit 9 Zeilen (Zir­lewa­gen S. 39) bzw. bei Knoll mit 14 Zeilen (Knoll S. 61), bzw. nur biografisch in Bezug auf Lina Richter (vgl. Hartwig), einge­gan­gen. Aber ger­ade zwis­chen 1933 und 1948 sind auf konzep­tioneller, struk­tureller und insti­tu­tioneller Seite dynamis­che Entwick­lung­sprozesse fest­stell­bar, die bis heute nachwirken.

Grün­dungsphasen, dynamis­che Konzepten­twick­lung und sta­tis­ches Universalkonzept

Bei Kurt Hahn lassen sich drei Grün­dungsphasen mit unter­schiedlichen päd­a­gogis­chen Schw­er­punk­ten und insti­tu­tionellen Aus­gestal­tun­gen unter­schei­den (vgl. Baig-Schnei­der 2025):

  • Die Grün­dung von Inter­natss­chulen (British Salem Schools) auf Basis sein­er sieben Sale­mer Geset­zte (vgl. Hahn 1930) und der Idee der „grande passion“
  • die Entwick­lung eines Freizeitabze­ichens, basierend auf den „vier Säulen“ kör­per­lich­es Train­ing, Expe­di­tion, Pro­jek­tar­beit und Gemein­schafts­di­en­stes, umge­set­zt in den Out­ward Bound Schools und dem Duke of Edinburgh‘s Awards
  • die Grün­dung inter­na­tionaler Inter­natss­chulen nach dem Vor­bild der British Salem Schools im Zeichen des Friedendienstes

Konzep­tionell sind zwei inhaltliche Schw­er­punk­te erkennen:

  • das schulis­che Internatskonzept
  • das außer­schulis­che Freizeitkonzept

Das schulis­che „British Salem Sys­tem“ ist geprägt von der Idee der „grande pas­sion“ und der Inter­nats­ge­mein­schaft als Aus­gangspunkt gesellschaftlich­er Verän­derung. Aus­druck dessen sind die 1930 in Englisch for­mulierten „7 Laws of Salem“ (Hahn 1930). Auf­bauend auf diesem schulis­chen Inter­natskonzept entwick­elte Hahn ab 1935 in Großbri­tan­nien die Idee eines freizeit­päd­a­gogis­chen Abze­ichens (vgl. Hahn 1938a, Hahn 1938b, Hahn 1941). Dieses ori­en­tierte sich prag­ma­tisch an vier zen­tralen Bere­ichen – den „four­fold achieve­ments“ kör­per­lich­es Train­ing, Expe­di­tion, Pro­jek­tar­beit und Gemein­schafts­di­enst (vgl. Coun­ty Badge Exper­i­men­tal Com­mit­tee 1941). Daraus ent­standen zwei unter­schiedliche Umset­zungs­for­men: ab 1941 die Out­ward Bound Bewe­gung mit dem Fokus auf aben­teuer­liche Expe­di­tio­nen in Pro­jek­t­form (vgl. Veevers/​Allison 2011, Free­man 2011) und ab 1956 in Form des Duke of Edinburgh‘s Award, der stärk­er auf den langfristi­gen Erwerb eines per­sön­lichkeits­bilden­den, sozialen Abze­ichens aus­gerichtet ist (vgl. Cobb 1986, Baig-Schnei­der 2025).

Trotz inhaltlich­er Über­schnei­dun­gen unter­schei­den sich, vor allem bis 1944, die Konzepte in ihrer päd­a­gogis­chen Begrün­dung, der inhaltlichen Schw­er­punkset­zung und der insti­tu­tionellen Umset­zung klar voneinan­der (vgl. Baig-Schnei­der 2022a). In dieser frühen Phase spie­len Ver­fallser­schei­n­un­gen und der moralisch geprägte Ret­tungs­di­enst noch keine explizite Rolle. Hahn zeigte sich in seinen päd­a­gogis­chen Ideen und Konzepten bis etwa 1944 sehr dynamisch.

Ab 1944, zu einem Zeit­punkt als die insti­tu­tionellen Grund­la­gen sein­er Inter­natss­chulen und seines Freizeitabze­ichens bere­its fest­standen, sprach er von „decline and decay“ und von „activ­i­ties which restore to the young the sources of human strength“ (Hahn 1944). Zunächst aber noch ohne klare Zuord­nung der „declines“ zu den „activ­i­ties“ Zwis­chen 1944 und 1948 ergänzte er seine Ideen, in Anlehnung an den amerikanis­chen Philosophen William James, mit dem Motiv des Ret­tungs­di­en­stes als moralis­ches Äquiv­a­lent für den Krieg (Hahn 1948).

Erst ab diesem Zeit­punkt lässt sich ein englis­chsprachiges „Uni­ver­salkonzept“ erken­nen (vgl. Baig-Schnei­der 2022a). Ab 1951 trans­formierte er dieses für den deutschsprachi­gen Raum in das starre Konzept der „Erleb­nis­ther­a­pie“. Auf dieses wird im Sam­mel­band über­wiegend Bezug genom­men. Hahn war jedoch ein prag­ma­tis­ch­er Päd­a­goge, der inter­na­tion­al agierte und haupt­säch­lich auf Englisch pub­lizierte und vortrug. Deshalb kon­nte er eine „“inter­na­tionale Erziehungsre­pub­lik“, die sich heute über fünf Kon­ti­nente erstreckt“ (Knoll, S. 70) begrün­den. Dieser Aspekt wird im Sam­mel­band nur am Rande berück­sichtigt. So find­en sich bei den ange­führten Zeug­nis­sen über Kurt Hahn, dem inter­na­tion­al agieren­den Päd­a­gogen (vgl. Byatt 1976), keine einzige englis­chsprachige Per­sön­lichkeit (vgl. Zir­lewa­gen 46–55).

Net­zw­erk­er und Propagandist

Hahns Erfolg beruhte wesentlich auf seinem Net­zw­erk ein­flussre­ich­er Unterstützer:innen. Dieser Aspekt wird im Sam­mel­band ange­sprochen (vgl. Knoll, Hartwig, Heek­erens), erhält aber jedoch, mit Aus­nahme von Heek­erens Beitrag (Heek­erens S. 118ff), wenig struk­turelle Bedeu­tung. Dabei ori­en­tierte sich Hahn bei der Umset­zung sein­er Ideen stets prag­ma­tisch an den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Ressourcen und war sehr flex­i­bel in der Berück­sich­ti­gung der Vorstel­lun­gen sein­er Unter­stützen­den. Seine ab 1933 stark zunehmenden Pub­lika­tio­nen dien­ten haupt­säch­lich der Förderung sein­er Pro­jek­te. Je nach Fokus waren diese Veröf­fentlichun­gen auf ein entsprechen­des Zielpub­likum zugeschnit­ten. Viele sein­er Texte basieren auf Reden und Zeitungsar­tikeln, mit denen er sein Net­zw­erk pflegte, Men­schen begeis­terte oder die öffentliche Mei­n­ung bee­in­flussen wollte. Ein Beispiel ist seine Schrift „From board­ing school zum train­ing home“ in der sich zeigt, wie offen Hahn für ver­schiedene For­men der insti­tu­tionellen Anbindung und der päd­a­gogis­chen Scher­punk­t­set­zung war (Hahn 1938).

Emanzi­pa­tion­sprozesse und Weiterentwicklungen

Hahns direk­ter Ein­fluss nahm meist nach ein­er Grün­dung ab. Andere über­nah­men die Weit­er­en­twick­lung sein­er Ideen. Der Sam­mel­band zeigt dies anhand der Weg­be­glei­t­erin­nen Min­na Specht und Lina Richter (vgl. Hartwig, Heek­erens). Diese Per­so­n­en waren nicht nur Verwalter:innen, son­dern gestal­teten die „Hahn­sche Erziehungsre­pub­lik“ aktiv mit (vgl. Hartwig S. 86). Salem und Gor­don­stoun wären ohne Min­na Specht, Lina Richter oder die Fam­i­lien Zim­mer­mann und Young (vgl. Veevers/​Allison 2011) kaum denkbar. Das Basis­cur­ricu­lum für sein Freizeitabze­ichen und die nach­fol­gende Umset­zung der Out­ward Bound Bewe­gung wurde maßge­blich von James Hogan (vgl. Hogan 1968) geprägt. Das Cur­ricu­lum und die insti­tu­tionelle Entwick­lung des Duke of Edinburgh‘s Awards wurde stark von John Hunt bee­in­flußt (vgl. Hunt 1978 und Cobb 1986). Ohne Josh Min­er gäbe es keine Out­ward Bound Bewe­gung in den USA (vgl. Miner/​Boldt 1981). Ziegen­speck bringt es in Bezug auf Zir­lewa­gens Beitrag(vgl. Zir­lewa­gen S. 30–44) auf den Punkt: „Dabei bleibt es nicht aus, dass viele Namen von Per­sön­lichkeit­en fall­en, die Kurt Hahn nah­e­s­tanden, ihn beri­eten und mit ihm im Gespräch waren […] die wie Kurt Hahn selb­st, inzwis­chen his­torische Bedeu­tung haben“ (Ziegen­speck S. 21).

Diese Per­sön­lichkeit­en waren bere­its zu Hahns Lebzeit­en aktiv und führten mit ihm teils heftige Diskus­sio­nen. Auf­grund der ihnen prak­tisch zur Ver­fü­gung ste­hen­den gestal­ter­ischen Möglichkeit­en ergaben sich spätestens ab den begin­nen­den 1950er-Jahren in den ver­schiede­nen Insti­tu­tio­nen nach­haltige inhaltliche und struk­turelle Emanzi­pa­tion­sprozesse. Zunächst in Großbri­tan­nien (vgl. Free­man, 2011), später auch im deutschsprachi­gen Raum (vgl. Friese, 2000). Im Zuge eines solchen Prozess­es trat Hahn, ver­mut­lich auch aus gesund­heitlichen Grün­den, 1953 als Schulleit­er von Gor­don­stoun zurück (vgl. Zir­lewa­gen S. 36, Friese 2000). Er kehrte in die Nähe von Salem zurück. Auch diese Rück­kehr ver­lief nicht span­nungs­frei, wie Ziegen­speck in seinem Geleit­wort betont:

„Ohne die Rück­kehr des Reform­päd­a­gogen aus dem englis­chen Exil wäre es in Salem wohl kaum gelun­gen, Anschluss an das ursprüngliche Konzept zu find­en […] Das Vorher und das Nach­her aber zeigte Bruch­stellen, sodass eine kri­tik­lose Wieder­bele­bung unmöglich war. Ins­beson­dere für Kurt Hahn muss das mehr als schmer­zlich gewe­sen sein, was er seine Kri­tik­er dur­chaus auch spüren ließ“ (Ziegen­speck S. 9).

Hahn kon­nte die Entwick­lun­gen in seinen Ein­rich­tun­gen immer weniger mit­tra­gen. In seinen späteren Pub­lika­tio­nen trat das Behar­ren auf ein uni­verselles Konzept auf. Aus dem visionären Grün­der wurde zunehmend eine behar­rende „graue Emi­nenz“, die vielerorts nur noch am Rande wahrgenom­men wurde (vgl. Byatt 1974). Die dynamis­chen Entwick­lung­sprozesse ste­hen im Sam­mel­band weniger im Mit­telpunkt, son­dern die Auseinan­der­set­zung mit Hahns the­o­retis­chem Konzept der Erlebnistherapie.

Von den „heal­ing expe­ri­ences“ zur Erlebnistherapie

Rund um den Zeit­punkt sein­er Rück­kehr bemühte sich Kurt Hahn, im deutschsprachi­gen Raum eine Out­ward Bound School, Kurz­schule genan­nt, zu grün­den (vgl. Heek­erens 2021). Wie bei früheren Grün­dun­gen nutze er sein Net­zw­erk, organ­isierte viele Überzeu­gungsver­anstal­tun­gen und betrieb eine aktive Pressear­beit (vgl. Heek­erens S. 122, Heek­erens 2021). Hahn pub­lizierte zwis­chen 1933 und 1946 auss­chließlich auf Englisch und nutzte in dieser Zeit dementsprechend nur englis­chen Begriffe. Da der Begriff „Aben­teuer“, char­ac­ter train­ing through adven­ture“ war ein viel ver­wen­detes Schlag­wort in den britis­chen Out­ward Bound Schools (Free­man 2011), im Nachkriegs­deutsch­land wegen der NS-Ver­gan­gen­heit prob­lema­tisch war, musste ein neuer Begriff gefun­den wer­den. Aus For­mulierun­gen wie „pre­ven­tive cure“ und „health giv­ing expe­ri­ences“ (Hahn 1938) bzw. „heal­ing expe­ri­ences“ (Hahn 1944) wurde schließlich der Begriff Erleb­nis­ther­a­pie (Hahn 1951). Warum Hahn ger­ade den Begriff „Erleb­nis“ wählte, den er zuvor nur gele­gentlich und ohne inhaltliche Erk­lärung, ver­wen­det hat­te, um „Adven­ture“ und „Expe­ri­ence“ zu über­set­zen ist bis­lang nicht gek­lärt. „Erleb­nis“ ist allerd­ings in der mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik, wie auch in diesem Sam­mel­band, als Über­be­griff für eine lebendi­ge päd­a­gogis­chen Prax­is zu ver­ste­hen und weniger als the­o­retis­ch­er Fachbegriff.

Das deutsche Nar­ra­tiv der Erlebnistherapie

Erst im Zuge des Rück­kehrprozess­es nach Deutsch­land propagiert Kurt Hahn ab 1951 mit der Erleb­nis­ther­a­pie (vgl. Heek­erens, 2019) eine speziell für den deutschen Raum auf­bere­it­ete Ver­sion seines erst 1948 fer­tiggestell­ten Uni­ver­salkonzepts (Hahn 1951, Hahn 1952). Dabei blendete er die unter­schiedlichen organ­isatorischen Entwick­lun­gen und Aus­gestal­tun­gen aus und pro­jizierte dieses Konzept rück­blick­end auf Salem zurück: „Die in Salem demon­stri­erte Erleb­nis­ther­a­pie bildet die Grund­lage der Out­ward Bound Bewe­gung“ (Hahn 1957). Damit führt er ein spez­i­fis­ches, his­torisch nicht halt­bares Nar­ra­tiv in die deutschsprachige Lit­er­atur ein. Dieses beruht auf drei zen­tralen Aus­sagen, die bis heute, auch in diesem Sam­mel­band, nachwirken:

  1. Es gibt im deutschsprachi­gen Raum eine lin­eare päd­a­gogis­che Konzepten­twick­lung von Salem (1920) bis zur Grün­dung der Kurz­schulen (1952), die die Entwick­lun­gen im angloamerikanis­chen Raum ausspart
  2. Das Erleb­nis ist ein zen­traler Begriff dieses päd­a­gogis­chen Konzepts
  3. Der Kern der Erleb­nis­ther­a­pie beste­ht in der fes­ten Verknüp­fung von vier Ver­fallser­schei­n­un­gen mit vier spez­i­fis­chen päd­a­gogis­chen Heilmitteln.

Dadurch ergibt sich für den deutschsprachi­gen Raum ein spez­i­fis­ches Deu­tungsange­bot. Die vier Schw­er­punk­te seines Freizeitabze­ichens wer­den in der Erleb­nis­ther­a­pie strikt mit vier Ver­fallser­schei­n­un­gen gekop­pelt. Dadurch erhält die Erleb­nis­ther­a­pie eine defiz­ito­ri­en­tierte Aus­rich­tung. In der englis­chen Tra­di­tion hinge­gen gel­ten diese vier Schw­er­punk­te seit 1941 als ressourcenori­en­tierte „Säulen“ der Per­sön­lichkeit­sen­twick­lung und haben damit über­wiegend keine defiz­itäre Kon­no­ta­tion (vgl. Out­ward Bound Trust).

Hahn führte wie gesagt den Begriff „Erleb­niss­es“ zwar sehr präsent ein, allerd­ings ohne ihn näher zu definieren. Die lin­eare Erzählweise kann als Ver­such Hahns gedeutet wer­den, seinem in der Real­ität schwinden­den Ein­fluss ent­ge­gen­zuwirken. In der Prax­is führte dies dazu, dass sich in Großbri­tan­nien und den USA dynamis­che (Weiter)Entwicklungsprozesse ergaben (vgl. Free­man 2011, Sea­man et all 2020, Baig-Schnei­der 2022b), während man sich in der deutschsprachi­gen Fach­lit­er­atur über­wiegend mit dem Konzept der Erleb­nis­ther­a­pie beg­nügte. Dabei wurde bis heute der Begriff „Erleb­nis“ fach­lich nicht klar verortet, auch wenn beim Ein­set­zen der mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik Ansätze zu find­en sind (vgl.Fischer/​Ziegenspeck 2000, Schott 2003, Schenz 2006, Baig-Schnei­der 2023b). Da die inter­na­tionalen Entwick­lun­gen aus­blendet wur­den, kon­nte dementsprechend auch kein direk­ter Bezug hergestellt wer­den (vgl. Baig-Schnei­der 2021a). Die the­o­retisch-cur­ric­u­laren Entwick­lun­gen aus dem angloamerikanis­chen Raum, ins­beson­dere die bere­its zu Hahns Lebzeit begonnene Verknüp­fung mit den The­o­rien von John Dewey (vgl. Sea­man et al 2020), auf den sich Hahn selb­st nie bezog, fan­den im deutschsprachi­gen Raum kaum Nieder­schlag. Sie wur­den meist nur als method­is­che Ergänzung in die mod­erne Erleb­nis­päd­a­gogik integriert.

Fol­gen des deutschsprachi­gen Nar­ra­tives und Ausblick

Abge­se­hen von diesen method­is­chen Über­nah­men blieb man the­o­retisch über­wiegend beim Nar­ra­tiv der päd­a­gogis­chen Erleb­nis­ther­a­pie. Die Ver­suche, vor allem auch beim Ein­set­zen der mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik, diese mit anderen päd­a­gogis­chen Tra­di­tio­nen und Bezü­gen inte­gra­tiv zu verknüpfen, blieben daher oft wenig nachhaltig.

Der Prozess, die mod­erne deutschsprachige Erleb­nis­päd­a­gogik auf eine bre­it­ere inhaltliche Basis zu stellen und sie kohärent sowie sys­tem­a­tisch weit­erzuen­twick­eln, begann mit dem Impuls Jörg Ziegen­specks im Jahr 1986. Seit­dem wurde er durch zahlre­iche Beiträge – darunter viele der Autoren dieses Sam­mel­ban­des – bere­ichert, abgeschlossen ist er bis heute nicht.

Diese Rezen­sion ver­ste­ht sich als ein Ver­such, sich dieser Her­aus­forderung zu stellen und mögliche Brück­en zu schla­gen. Sie endet daher mit den Worten Jörg Ziegen­specks aus diesem Sammelband:

Mit Golo Mann kann das fol­gen­der­maßen expliziert wer­den: „Jede Gen­er­a­tion muss sich ihren Begriff von der Ver­gan­gen­heit sel­ber machen. Keine beg­nügt sich mit dem, was andere vor ihr leis­teten, mögen sie auch Meis­ter gewe­sen sein. Die Ver­gan­gen­heit lebt; sie schwankt im Lichte neuer Erfahrun­gen und Fragestel­lun­gen. Das Spätere kommt aus dem Früheren; es wirkt aber auch auf das Frühere zurück, durch welch­es es bed­ingt ist“. Die Ver­gan­gen­heit in diesem Sinne ver­lebendigt zu haben, ist das große Ver­di­enst von Marc Zir­lewa­gen und den von ihm in diesem Sam­mel­band zusam­menge­führten Arbeit­en von kom­pe­ten­ten Autorin­nen und Autoren. Hier­an anzuschließen und aufzubauen wird den nach­fol­gen­den Gen­er­a­tio­nen damit gle­ichzeit­ig zur Auf­gabe und Pflicht. Es bedarf nicht des Bruchs, wir benöti­gen Brück­en­bauer“ (Ziegen­speck S. 26).

Fazit

Der Sam­mel­band bietet eine fundierte, kom­pak­te und detail­re­iche Darstel­lung zen­traler Aspek­te von Hahns Leben und Wirken im deutschsprachi­gen Raum. Die Grund­lage bildet dabei die bish­erige rezip­ierte deutschsprachige Lit­er­atur. Weniger im Fokus ste­ht Hahns Rolle als inter­na­tionaler Päd­a­goge, Net­zw­erk­er und Begrün­der ein­er „inter­na­tionalen Erziehungsre­pub­lik“ sowie der Ein­fluss seines Nar­ra­tivs auf die mod­erne Erleb­nis­päd­a­gogik im deutschsprachi­gen Raum. Der Sam­mel­band ist daher beson­ders für Leser:innen zu empfehlen, die sich kom­pakt, fach­lich fundiert und mit the­ma­tis­ch­er Tiefe über Hahns Wirken im deutschsprachi­gen Raum informieren möchten.

Literatur

Baig-Schnei­der, R. (2018): Was nach 1945 kam. Die Entwick­lung zur mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik. In: W. Michl und H. Sei­del (Hrsg.): Hand­buch Erleb­nis­päd­a­gogik (2. Auflage), München: Reinhardt.

Baig-Schnei­der, R. (2021a). Entwick­lung­sprozesse zur mod­er­nen Erleb­nis­päd­a­gogik im inter­na­tionalen Kon­text. In: erleben und ler­nen, Heft 3&4, (58-60).

Baig-Schnei­der, R. (2021b). Von der Grande Pas­sion zur christlichen Pas­sion of [Samarit­ian] Ser­vice. In: erleben und ler­nen, Heft 6, (38-39).

Baig-Schnei­der, R. (2022a). Ret­tungs­di­enst und Erleb­nis­ther­a­pie. In: erleben und ler­nen, Heft 2 (24-26).

Baig-Schnei­der, R. (2022b). Adven­ture, Expe­ri­ence und Expe­ri­en­tial Edu­ca­tion. In: erleben und ler­nen, Heft 5 (24-26).

Baig-Schnei­der, R. (2023a). Mod­erne Erleb­nis­päd­a­gogik. In: erleben und ler­nen, Heft 1 (22-24).

Baig-Schnei­der, R. (2023b): Der Begriff Erleb­nis­päd­a­gogik. In: erleben und ler­nen, Heft 3&4 (46-49).

Baig-Schnei­der, R. (2024): Kurt Hahn. Zum 50ten Todestag eines inter­na­tionalen Päd­a­gogen. In: erleben und ler­nen, Heft 6 (24-25).

Baig-Schnei­der, R. (2025): Zur Vorgeschichte des Duke of Edinburgh’s Award. In: erleben und ler­nen, Heft 1 (8-9).

Byatt, D. (1976) (Hrsg): Kurt Hahn. 1886–1976. Gor­don­stoun: Uni­ver­si­ty Press.

Cobb, D. (1986): 30 Years On: The sto­ry oft the Duke of Edinburgh’s Award. Wind­sor: The Duke of Edinburgh’s Award.

Coun­ty Badge Exper­i­men­tal Com­mit­tee (1941) (Hrsg): The Badge or the Four­fold Achieve­ments. London/​Toronto/​Bombay/​Melbourne: Oxford Uni­ver­si­ty Press.

Fis­ch­er, Torsten/​Ziegenspeck, Jörg (2000): Hand­buch Erleb­nis­päd­a­gogik. Von den Ursprün­gen bis zur Gegen­wart. Bad Heil­bronn: Klinkhardt.

Flavin, M. (1996): Kurt Hahn’s Schools & Lega­cy. Delaware: Mid­dle Atlantic Press.

Free­man, M. (2011): From „char­ac­ter-train­ing“ to „per­son­al growth“. The ear­ly his­to­ry of Out­ward Bound 1941–1965. In: His­to­ry of Edu­ca­tion, Heft 1 (21-43).

Friese, P. (2000): Kurt Hahn. Leben und Werk eines umstrit­te­nen Päd­a­gogen. Dorum: Eigenverlag.

Hahn, K. (1930): The 7 Laws of Salem: Privatdruck.

 

Weit­ere Infor­ma­tio­nen bei DNB KVK GVK.

Nach oben