Rezension
Monika Pietsch für social.net
Thema
Rousseau, Thoreau und Hahn sind für einen selbstverantwortlichen Bürger eingetreten. Erziehung sollte politische Mündigkeit, bürgerschaftliches Engagement und Demokratie vermitteln. Die Schrift greift diese Grundlagen wieder auf. Die 21 Artikel beleuchten das Thema unter verschiedenen Aspekten.
AutorIn oder HerausgeberIn
Prof. Dr. Peter Schettgen, Dipl. Pädagoge und Autor wissenschaftspsychologischer und -pädagogischer Publikationen. Seine Verbindung zur Erlebnispädagogik entstand durch Aikido (seit 1994 leitet er eine Ausbildungsstätte) als Methode des handlungs- und erfahrungsorientierten Lernens.
Dipl. Päd. Univ. Alex Ferstl, geschäftsführender Gesellschafter der Full- Service Medien und Werbeagentur Friends Group GmbH sowie von ZIEL – Zentrum für interdisziplinäres erfahrungsorientiertes Lernen GmbH, Autor pädagogischer Publikationen. Durch sein langjähriges Engagement in der Pfadfinderbewegung kam er in Kontakt zur Erlebnispädagogik.
Dr. phil. Dipl. Päd. Barbara Bous, langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Augsburg verantwortlich für Beratung, Betreuung und Lehre im Bereich Erlebnispädagogik, Autorin und freie Trainerin.
Entstehungshintergrund
„Einmischen Possible!“ ist die Konferenzschrift der gleichnamigen Konferenz zur Erlebnispädagogik 2018 in Augsburg.
Aufbau und Inhalt
In dem Vorwort der Herausgeber zeigen Schettgen, Ferstl, Bous die Facetten der aktuellen Lebenswelt auf. Die Erlebnispädagogik wird in ihrer gesellschaftlichen Dimension selten thematisiert und ihre Wirkung unterschätzt. Ihren Vordenker Thoreau und Hahn bspw. war dies ein Anliegen. Sich gemeinsam für die Gesellschaft einzusetzen ist ein wichtiges Ziel und Einmischen gehört dazu. Als Struktur für die eingereichten Artikel wurde ein Dreieck konstruiert:
Thema (inhaltliche Schwerpunktsetzung zum Kongressmotto)
Zugang (ein vom Autor gewählter Zugang sich dem Thema methodisch zu nähern)
Haltung (Verweis auf ein inneres Skript oder ein mentales Programm)
Alle Fachbeiträge haben einen identischen Aufbau: Vorstellung der Autor*innen, Artikel, Literatur; zur Orientierung wird der Beitrag in der Dreiecksgrafik Thema/Zugang/Haltung mit einem Punkt an der entsprechenden Stelle positioniert. Aus jedem Bereich werden hier exemplarisch Artikel näher beschrieben.
Aus der Mitte des Dreiecks „Thema- Zugang- Haltung“:
Barbara Bous; Schule zwischen sozialem Lernen und Bildungserfolg – ein erlebnispädagogischer Spannungsbogen? Bous stellt fest, dass Übergänge z.B. in die Schule oder in eine weitergehende Schule gestaltet werden müssen. Zur Erziehung weltoffener, lösungsorientierter, konflikterprobter Menschen bietet sich die Arbeit mit der Erlebnispädagogik an. Bous erachtet es als notwendig, dass Erlebnispädagogik und handlungsorientiertes Lernen Bestandteile der Fachdidaktiken der Lehrerausbildung werden. Dazu braucht es auch von Seiten der Ministerien einen dauerhaften Einsatz und finanzielle Unterstützung.
Sam Brüngger/Franziska Brüngger; Kann Baumhausbauen die Welt verändern? Grundlage des Baumhausbauens mit Gruppen ist die Methode „Dragon Dreaming“ mit 3 Zielen: persönliches Wachstum, Gemeinschaft fördern, dem Wohl der Welt dienen. Dazu werden 4 Schritte durchlaufen: Träumen- Planen- Handeln- Feiern. Einzige limitierende Faktoren sind die bereitgestellte Zeit für den Bau des Baumhauses und das vorhandene Material. Die Welt wird dadurch verändert, dass Menschen gemeinsam Ideen entwickeln und diese umsetzen. Das kann und soll nach Brüngger/Brüngger durch den Bauhausbau erlebbar werden.
Nadine Thoma; Erlebnis – BEZIEHUNGsweise – Handarbeit Thoma konstatiert, dass ein Rückblick auf die Wurzeln der Erlebnispädagogik auf bekannte Mängel verweist, die auch heute noch oder wieder erkennbar sind. Grundsätzlich fehlen „Primärerfahrungen“ (Erlebnisse, an denen man mit allen Sinnen selbst und direkt teilhat), schöpferisches Tun und Bewegung draußen, Partizipation am Entstehungsprozess, Beziehungen auf Augenhöhe, Alltagsdienste, Herausforderungen etc.Als Lernort bietet sich der Wald an, der, mit allen Sinnen genossen, vielfältige auch biologische/medizinische Effekte erzielt. Dabei misst sie der Handarbeit, der Herstellung z.B. von Alltagsgegenständen einen besonderen Stellenwert zu.
Stefan Jenuwein/Bernhard Kurz; Inklusion durch Klettern – ein innovativer Ansatz
Gunnar Liedtke/Bijan Ghaffari; Forward to the Roots – Reaktivierung der Mensch-Natur-Beziehung als Zukunftsaufgabe der Erlebnispädagogik?
Rafaela Zwerger/Debora Widmann; Übergriff oder Unterstützung: Vom Einmischen in Lernprozesse oder von der Unmöglichkeit des Nicht-Einmischens
Aus dem Bereich „Zugang und Haltung“:
Christian Dittmar; Spirituelle Wanderungen in der Stadt Dittmar entdeckte auf einer Pilgerwanderung, dass sich auch städtische und urbane Orte zur Meditation eignen. Ob nun auf einer Autobahnbrücke oder an einer stark befahrenen Kreuzung. Er spricht sich dafür aus, diese Orte nicht zu übergehen oder zu meiden.
Paul Häb; Erlebnisraum Stadt. City Bound für die Zielgruppe Menschen mit Beeinträchtigung Häb erprobte ein eigenes City Bound Konzept mit einer Gruppe von 15 Menschen aus unterschiedlichen Werk- und Tagesstätten, mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen (Blindheit, Gehörlosigkeit, leichte bis schwere geistige Beeinträchtigungen etc.). Die City Bound Aufgaben waren u.a. einen neuen/fremden Lebensraum aufsuchen, einen Satz in 10 verschiedenen Sprachen sammeln, Aufklärungsarbeit leisten z.B. in der Stadtverwaltung zum Thema Beeinträchtigungen u.v.m. Häb zeigt auf, dass City Bound für alle Menschen als Methode sehr geeignet ist.
Torsten Flader; Erlebnispädagogische Wertevermittlung als gesellschaftspolitische Einmischung
Henry Schubert; Japanische Kampfkunst und Anforderungen an moderne Führungskräfte
Thorsten Späker; Die Natur als Kulisse? Naturerfahrungen in der Erlebnispädagogik
Aus dem Bereich „Haltung und Thema“:
Roland Abstreiter/Oliver Dorgerloh; Neutrales Einmischen oder subjektives Raushalten Die Autoren beschreiben das allgegenwärtige „Schubladen- Denken“, welches sie aber trotz aller Kritik für die Bewältigung des Alltags als nützlich erachten. Es ergeben sich daraus unterschiedlichen Sichtweisen, die aus der persönlichen Herkunft und den gemachten Erfahrungen resultieren. Diese wiederum haben Einfluss auf das Dialog- und Kommunikationsverhalten. Auf die Erlebnispädagogik bezogen heißt das, dass jede Intervention durch Trainer*innen aus dem persönlichen „Schubladen-Denken“ heraus entsteht und sowohl den Grund, als auch Zeitpunkt und Art der Intervention ausmacht. Das Gleiche gilt für die Nicht- Intervention. Ihr Fazit: Einmischen bedeutet sich selbst und anderen Fragen zu stellen, um die vorgefertigten Denkweisen auf den Prüfstand zu stellen.
Harald Michels; Höher-Weiter-Schneller: Wettbewerbsorientierte Aktionen in der Erlebnispädagogik – Nein danke? Michels bezieht sich auf seinen Artikel in der Zeitschrift e&l/2016 und der anschließenden öffentlichen Diskussion darüber. Er beschreibt die Allgegenwärtigkeit der Leistung und die Konsequenz des Verlierens. Auch in der Erlebnispädagogik wird dieses Prinzip des Wettbewerbs eingesetzt. Hier sollte seiner Meinung nach das Thema Wettbewerb offengelegt und zum Thema der Reflexion gemacht werden. Michels stellt verschiedene Forderungen auf: wettbewerbsorientierte Spielen sollen nicht dominieren; der faire und respektvolle Umgang sollte im Mittelpunkt stehen; Regeln könnten verhandelt werden; das Wählen von Mitgliedern in ein Teams sollte vermieden werden, Niederlagen sollen erlebt und reflektiert werden.
Friederike Preusehen; Menschen stärken für den sozial-ökologischen Wandel
Gerhard Scheucher; Einmischen necessary – oder: Warum die Gesellschaft Freigeister braucht
Aus dem Bereich „Thema und Zugang“:
Robert Paschmann/Andreas Mah; KOPF KÖRPER KINO – ein kultur- und erlebnispädagogisches Seminar zum Thema Geschlechterrollen und Medien Die Autoren beobachteten in Fernsehen und Kino die stereotypen Rollen von Männern und Frauen. Erst in den 90er Jahren taucht in der weiblich Hauptrolle „Akte X“ Dana Scully auf. Nach ihr wurde der Scully-Effekt benannt, der mit diesen Rollen bricht. Jetzt war eine Frauenrolle analytisch und sachlich, Agentin und Medizinerin zugleich. Paschmann/Mahrentwarfen ein Seminarprogramm zum Thema Gender und Medien aus den drei Bausteinen:
1. Kopf (wie möchte ich leben und wie lässt mich die Gesellschaft leben?)
2. Körper (verschiedene Outdooraufgaben, die anschließend reflektiert werden: gab es typische Frauen- und Männer- Rollen/Aufgaben/Tätigkeiten?Verschwand das Rollendenken im Laufe der Aktivität?)
3. Kino: Drei ausgewählte Kinosequenzen wurden mit getauschten Rollen (Mann-Frau) neu gedreht und anschließend reflektiert.
Paschmann/Mahr stellen nun nach 7 Jahren fest: das Rollenverständnis hat sich allgemein gewandelt. Frauen scheint man Macht, Stärke, Brutalität etc. zuzutrauen; Männern scheint die Rolle des vertrauensvollen eher schwachen Menschen schwer zu fallen. Das Konzept des Seminars muss für die Zukunft neu überdacht werden.
Hanna Beißert; Erlebnispädagogik meets Sozialpsychologie – Chancen und Möglichkeiten der Erlebnispädagogik zur Reduktion von Vorurteilen, Anfeindungen und Konflikte
Christian Mende; Demokratie erLeben
Aus dem Schwerpunkt „Zugang“:
Jochen Hotstegs; Virtuelle Realitäten im erfahrungsorientierten Lernen Hotstegs beschreibt die unterschiedlichen Techniken von virtuellen Realitäten (VR), den dazugehörenden Hardware- Brillen und Software- Programmen, eine digitale Welt. Die Technik VR wird schon jetzt im Unterricht, in der Schulung der Deutschen Bahn, in der Ausbildung von Lehrkräften genutzt. Technisch gesehen werden mithilfe von Programmen und Fotomaterial VR gestaltet. Sie werden mit dem Charakter einer „Spielfigur“ versehen und sind für virtuelle Ausflüge und Begehungen nutzbar. Einige Untersuchungen zeigen, dass positive Effekte dieser Simulationen auch langfristig messbar sind. So konnten sich Klienten als kommunikativ und attraktiv „kreieren“ und später im realen Leben von diesen Erfahrungen profitieren. In der Erlebnispädagogik könnten Menschen schrittweise digital an bestimmte Herausforderungen aus dem erlebnispädagogischen Setting herangeführt werden; sie „gehen“ schon vorher in verschiedene Situationen, bevor das Training startet. Für die Reflexion können Fotos bei erlebnispädagogischen Aktivitäten gemacht werden. Diese werden mithilfe einer App in einem Panorama zusammengefügt. So kann man anschließend mithilfe der Brillen, am PC oder Leinwand erneut durch diese Situationen gehen. Auch in der Traumapädagogik kann die Technik eingesetzt werden. Persönliche Stärken können in ein 360 Grad Panorama eingearbeitet werden, dies wird als Film oder Bild gespeichert und kann vom Klienten mit dem eigenen Smartphone abspielt werden. Der bekannte „Stärkerahmen“ als Methode der Traumapädagogik ist so auch digital erstellt und kann per Smartphone genutzt werden.
Henrike Hirschmüller/Mirjam Link; Inneres Feuer und kraftvolles Handeln – entscheidende Momente in pädagogischen Prozessen
Aus dem Schwerpunkt „Haltung“:
Elisabeth Christina Tauss; Mehr ist weniger! Wertearmut in einer Überflussgesellschaft und der Appell der Erlebnispädagogik Tauss fragt wie die Erlebnispädagogik in der heutigen Zeit den humanitären Geist wecken kann. Ziel ihrer Kurse und Events ist es Dankbarkeit und Zufriedenheit mit den einfachen, kleinen Dingen: eine heiße Suppe, ein Dach bei Regen, ein brennendes Feuer, zu wecken. Sie ruft dazu, auf in der Erlebnispädagogik Wertewächter zu werden, um aus Wertearmut WerteMUT werden zu lassen.
Fazit
Das Ziel der Herausgeber ein breites Spektrum der gesellschaftlichen Dimension für die Erlebnispädagogik aufzuzeigen ist gelungen. Zu den unterschiedlichen Ursprungsthemen (Herkünften der Autor*innen) und Herangehensweisen zeigt sich als verbindendes Glied die Wirkung und der Einfluss der Erlebnispädagogik auf die Gesellschaft, auf den Einzelnen und dessen Verantwortung.
Besonders beeindruckend ist die Vielfalt der Aufsätze. Sie bieten dem Leser einen Blick über den Tellerrand. Die 21 Artikel reißen die Themen natürlich nur kurz an, zeigen jedoch die Intention sich mit der gesellschaftlichen Aufgabe auseinander zu setzen. Und sicher werden einige Diskussionen dadurch angeregt. So kann sich die Erlebnispädagogik weiter entwickeln.
Es ist lesenswert jenseits von Spielen, Aufgaben, Übungen (mit und ohne Lösungen) und den Tipps aus der Praxis diese Fülle an Artikeln zu lesen, die dann doch wieder in die Praxis einfließen werden und können.