Dr. theol. Josef Nolte, AM – Akademische Monatsblätter, Dezember 2017, 129. Jahrgang, Nr. 10, S. 310
Was ist und war Andragogik?
Wohl die meisten werden bei dem Titel stutzen: Was ist denn Andragogik? Jost Reischmann, bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Andragogik an der Universität Bamberg (www.jost-reisch mannfam.de) beantwortet diese Frage: „Andragogik ist die Wissenschaft von der lebenslangen und lebensbreiten Bildung Erwachsener (Seite 6)“. In einem kunstvollen Geflecht einer Auswahl bisheriger Wortmeldungen zur Theorie und Praxis stellt er die Bedeutung und Breite dieses Bildungsbereichs dar. Andragogik ist das Basisfach, eine jeden Form von Weiterbildung und Erwachsenenbildung, ist aber nicht mit diesen nicht immer gut begründeten pädagogischen Derivaten identisch.
Andragogik besitzt eine lange und vornehme Abkunft, insofern der hier im Zentrum befindliche transzendentale Begriff von Bildung auf Platons Idealismus zurückgreift und auf einen irreversiblen Humanismus hinausläuft. Auch wenn Jost Reischmann in gesunder Selbstdisziplin sein Fach höchstens für eine pädagogische Subdisziplin hält, wäre er aber wohl doch einverstanden, wenn dieses Fach in seiner Tiefe und Fülle als ein Basisfach der Menschenbildung überhaupt angesehen würde. In diesem Sinne hatten schon Eduard Spranger, Eugen Rosen stock, Theodor Lessing sowie Franz Pöggeler und Ivan lllich vorgearbeitet.
Was aber lernt und was gewinnt jemand, der Andragogik studiert? Die Antwort, die Reischmann gibt, läuft darauf hinaus: Andragogik führt zu selbstgesteuertem Lernen und vor allem zu einer Kompetenzorientierung beim lernenden. Damit ist Andragogik ein Stück weit eine Metapädagogik und somit eher in der philosophischen als in der sozialwissenschaftlichen Fakultät und schon gar nicht in der Organisationswissenschaft angesiedelt.
Doch gerade an dieser Stelle erhebt sich für die Wissenschaftspolitik die Frage nach der genauen Kenntlichkeit und gesellschaftlichen Verwertbarkeit dieses sehr besonderen Wissenschaftsvorkommnisses. Denn Andragogik ist ja in der Tat keine reine Wissenschaft wie Mathematik, Physik oder Philosophie, sondern eher eine „Zwischenwissenschaft“, die sich mit guten Gründen in andere Wissenschaftsbereiche – etwa der Anthropologie und Psychologie – einmischt und von dort aus Theorieelemente oder Handlungsmuster gewinnt.
Wissenschaftsbereiche wie die Andragogik leben stärker als viele herkömmliche Fächer vom Engagement derer, die – als Hochschullehrer oder Studierende – ihr Fach hochhalten und nach vorne bringen. Dies hat Jost Reischmann fast über zwei Jahrzehnte hin in Bamberg getan. Davon handeln seine Aufsätze und Projektberichte, die sich wie Proben aufs Exempel einer stets präsent gehaltenen Theorie aus nehmen. Zum vergnüglichen lesen der neunzehn Beiträge trägt deren Kürze bei, aber auch die vielfältigen Beispiele und so manches persönliches Bekenntnis, das den Verfasser selbst als lernenden (und aus Fehlern lernenden) erfahren lässt.
Mithin laufen die Beiträge des Autors und insbesondere seine so tapfer abgedruckte Abschiedsvorlesung auf einen Rechenschaftsbericht eines Faches hinaus, das mit sich selbst im Reinen ist und dessen hochrangiger Fachvertreter, als welchen er sich ansehen kann, weiß, dass er sein Bestes gegeben hat.
Wer sollte dieses Buch lesen? Sicherlich bereichert dieses Buch durch die viel fältigen Anregungen für Verstehen und Gestalten, für Theorie und Praxis, jeden, der Haupt- oder nebenberuflich in der Erwachsenen- und Weiterbildung arbeitet. Aber der angesprochene Leserkreis ist weiter – und dieses Anliegen wird bei Reischmann immer wieder deutlich: Andragogik umfasst mehr als Erwachsenenbildung, Andragogen sind Veränderungs-Spezialisten in mannigfaltigen Gespannen: als Bildungsmanager, Personal- und Organisationsentwickler, im Qualitätsmanagement, in Evaluation und vielfältigen anderen Bereichen, in denen es um Veränderung durch Lernen geht. Auch dort wird man dieses Buch mit Gewinn lesen.
Und dass die zwischen 1994 und 2008 fast verdreifachte Absolventenzahl (Seite 242) „ganzschnell vom Markt aufgenommen wurde“ (Seite 237), insbesondere aber dass von den Absolventen etwa fünfzig neue Arbeitsplätze geschaffen wurden – „Das soll uns erst mal jemand nachmachen!“ meldet er stolz auf Seite 244 – sollte auch Bildungspolitiker auf die Möglichkeiten dieses neuen Faches auf merken lassen.