Klappentext
Individualpädagogik wird nach wie vor kontrovers, manchmal sogar polar, diskutiert. Trotz konzeptioneller und fachlicher Weiterentwicklung sowie empirischer Fundierung löst diese Hilfeform oft Gefühle, Ängste oder Befürchtungen mit einem immer intensiveren Regulierungsdruck aus. Reißerische Medienberichte machen in besonderem Maß die Hilflosigkeit und Haltung des „Systems“ deutlich.
Das vorliegende Buch richtet einen breit angelegten Blick auf diese Nische erzieherischer Hilfen. In Form von Praxisberichten, konzeptionellen und theoriebasierten Überlegungen, Forschungsergebnissen, historischen Rückblicken und dem Einbeziehen fachverwandter Aspekte wird eine Rückschau und ein Blick in die Zukunft ermöglicht.
Es ist auch eine Publikation gegen das Vergessen der Menschen, die sich mit viel Fachlichkeit, Herzblut und Risikobereitschaft dem Aufgabenfeld einer besonders benachteiligten Zielgruppe zugewandt haben: Sie kommen zu Wort und finden Erwähnung. Die einzelnen Artikel sind ebenso als Impuls gedacht, sich mit der Historie und mit den Aspekten einer zukunftsfähigen Weiterentwicklung der Individualpädagogik auseinander zu setzen. Eher (wieder einmal) ein Beginn als ein Abschluss.
Vorwort der Herausgeber
Diese Publikation ist ein Experiment, von dem wir noch nicht wissen, wie es enden wird. Entweder geht es in der Vielfalt der Pädagogikliteratur unter, wird vielleicht gar nicht wahrgenommen oder, so unser Wunsch, es wird als Impuls angesehen, die historische Entwicklung und Bedeutung der „Individualpädgogik“ etwas mehr in den Blick zu nehmen und an deren Wirksamkeit und Qualität weiterzuarbeiten.
Nach wie vor werden jungen Menschen, die in und mit den angebotenen Erziehungshilfestrukturen nicht zurechtkommen als „Systemsprenger“ bezeichnet. Damit wird die Verantwortung für ihr „Versagen“ individualisiert und an die jungen Menschen selbst und deren Familien abgegeben, deren Ausgrenzung und Stigmatisierung geht weiter. Das System stellt sich selbst eher nicht in Frage, obwohl viele der jungen Menschen genau daran scheitern. Die seit Jahren bestehende und empirisch belegte hohe Quote der ungeplanten Abbrüche in stationären Hilfen, besonders bei Jugendlichen, spricht eine deutliche Sprache.
Genau für diese Jugendlichen wurde seit dem Wandel vom JWG (Jugendwohlfahrtsgesetzt) als sog. „Eingriffsgesetz“ zum SGB VIII (das die Herkunftsfamilie als Hilfeempfänger in den Blick nahm) in den 90er Jahren, zunächst von einigen „Exoten“ dann von mehr und mehr sich entwickelnden Trägern, „Individualpädagogik im In und Ausland“ konzeptioniert und angeboten. Die Erlebnispädagogik und sport-, bewegungs- und kunstpädagogische Elemente (Ressourcenorientierte Pädagogik) standen ebenso Pate.
Etliche empirische Untersuchungen belegen die hohe Wirksamkeit und den Erfolg derartiger Hilfen. Im Laufe der Zeit wurden die bestehenden qualitativen Standards weiterentwickelt, Selbstverpflichtungen erarbeitet, Mitarbeitende fachlich ausgebildet und gesetzliche Anpassungen vorgenommen, die die oben genannten Effekte noch unterstützen. Trotzdem wurde die Diskussion um diese Hilfen weiter sehr stark durch ideologische Aspekte bestimmt und wenige, sehr unfachlich agierende öffentliche und private Träger bestimmten durch ihre oft strafrechtlich relevanten Handlungsweisen die öffentliche Diskussion.
Die jungen Menschen UND die angebotene individualisierte Hilfeform erleben hier das gleiche Schicksal einer eher stigmatisierenden und nicht einer fachlich fundierten Beurteilung. Durch die Politik initiierte inländische und europäische Verordnungen benachteiligen ganz aktuell besonders die sozial ausgegrenzten jungen Menschen in besonderem Maß und ermöglichen ihnen keine Teilhabe am interkulturellen Austausch und am sozialen Lernen, die Ablehnung einer Systemverantwortung geht weiter.
Auch ein, dieser Hilfeform gegenüber nicht gerecht werdender „kritische“ Blick hat uns veranlasst, mit den nachfolgenden Artikeln die erfolgreiche Entwicklung der „Individualpädagogik“ zu dokumentieren.
Gleichzeit ist diese Publikation ein Versuch, denjenigen Gehör zu verschaffen, die sich seit einer Vielzahl von Jahren praktisch und theoretisch mit diesem Angebot erzieherischer Hilfen auseinandergesetzt und es damit wesentlich mit geprägt haben.
In unserer schnelllebigen Zeit gehen historische Zusammenhänge sehr oft verloren. Menschen, die Entwicklungen angeregt, Initiative ergriffen, Konzepte entwickelt und umgesetzt haben geraten vielfach in Vergessenheit auch deshalb, weil ihr praktisches Handeln wenig Zeit ließ, auch noch politische Statements, verbandliches Engagement oder Öffentlichkeitsarbeit zu ermöglichen.
Und so finden Sie als Leser auf den folgenden Seiten, nach unserem Vorwort viele Fachartikel, die sich mit der Historie, mit der Grundhaltung und Ethik, mit praktischen und konkreten Konzepten und deren erfolgreiche Umsetzung, mit einem fachphilosophischen Blickwinkel der „Individualpädagogik“ aber auch mit prägenden angrenzenden „Pädagogiken“ beschäftigen. Sie wurden von Fachleuten verfasst, die in meist sehr konkreter Form in Praxis und Forschung zur Entwicklung individualpädagogischer Hilfen beigetragen haben.
Sicherlich ist es uns nicht gelungen, alle Aspekte dieser Hilfeform eingehend und mit angemessener Tiefe zu beleuchten, bei der Vielfalt der Angebote und Ansätze und der Protagonisten ein schier unmögliches Unterfangen. Wie gesagt, wir verstehe unsere Publikation als Impuls, der vielleicht von anderen Autoren weiter aufgegriffen und vertieft werden kann.
Ergänzt werden diese Fachartikel durch die Betrachtung sog. „verwandter pädagogischer Ansätze“ wie die „Erlebnispädagogik“ und die „Ressourcenorientierte Pädagogik“. Sie sind und waren Bestandteile individualpädagogischer Hilfen, der Begriff „Erlebnispädagogik“ wurde in den Anfängen synonym dafür benutzt und viele aktuelle Hilfeangebote integrieren nach wie vor Elemente davon. Erst im Laufe der Weiterentwicklung individualpädagogischer Ansätze wurde auch eine begriffliche Trennung vollzogen. Wir wollen allerdings diese Wurzeln nicht in Vergessenheit geraten lassen. Sie sind nicht nur fachhistorisch wichtig, sondern nehmen auch die Menschen in den Blick, die sich an dieser Entwicklung beteiligt waren. Neben den Fachartikeln finden Sie in einem zweiten Teil eine Sammlung von „Protagonisten“ individualpädagogischer Hilfen. Sie haben diese Hilfeform in Deutschland entwickelt, umgesetzt, beforscht und (fach-) verbandlich und (fach-)politisch vertreten und mit geprägt.
Sie sind eine Ansammlung und ein riesiges Potential an fachlicher, menschlicher und ethischer Kompetenz. Von Ihnen ging und geht Innovation, „Unternehmertum“ im Sinne von „etwas mit jungen Menschen machen und unternehmen“, pädagogisches Herzblut und Freude am Gestalten aus. Auch hier ist es aus unterschieidlichen Gründen unmöglich Alle zu erwähnen und einen Platz zu geben. Manche sind leider schon verstorben, andere lehnen eine solche Darstellung aus Bescheidenheit ab, wieder andere sind nicht mehr erreichbar oder wollen als Pensionisten die gewonnene Freiheit und Distanz zum beruflichen Leben weiter bewahren. All dies wollen wir respektieren und möglicherweise haben wir auch Kolleginnen und Kollegen schlichtweg übersehen oder nicht mehr in Erinnerung rufen können. Dafür bitten wir schon jetzt um Vergebung und auch hier gilt der Gedanke des obigen Impulses.
Der Titel, „Damit Geschichte Zukunft bleibt“ ist sehr bewusst gewählt. Unsere Idee, die Historie und betreffende Menschen in Erinnerung zu rufen und sich damit auseinander zu setzen, soll gleichzeitig als Aufruf verstanden werden, die Zukunft der Individualpädagogik konstruktiv und zum Wohle der jungen Menschen weiterzuentwickeln und zu gestalten.
Jeder junge Mensch, welches persönliche Schicksal er auch unverschuldet erleiden musste, hat es mehr als verdient, die individuelle Unterstützung zu erhalten, die ihm eine selbstbestimmte Teilhabe am Leben ermöglichen kann. Dies umzusetzen ist eine ethisch-humanistische und gesellschaftliche Verpflichtung und gleichzeitig gesetzlicher Auftrag. „Individualpädagogische Hilfen im In- und Ausland“ sind eine Möglichkeit der Erzieherischen Hilfen dies umzusetzen, ganz besonders dann, wenn den jungen Menschen noch mehr Ausgrenzung und Stigmatisierung droht. Derartige Angebote verdienen es, das hat die Vergangenheit gezeigt, nicht fachlich geächtet oder weiter politisch gegängelt, sondern in ganz besonderem Maße wertgeschätzt und gefördert zu werden, eben weil sie oft die einzig mögliche Form der Umsetzung von Hilfen für diese junge Menschen sind. Alles andere bedeutet Scheitern.
In diesem Sinne wünschen wir Interesse,
Spaß und Freude am Lesen
Die Herausgeber