Klappentext
Individualpädagogik wird nach wie vor kontrovers, manchmal sogar polar, diskutiert. Trotz konzeptioneller und fachlicher Weiterentwicklung sowie empirischer Fundierung löst diese Hilfeform oft Gefühle, Ängste oder Befürchtungen mit einem immer intensiveren Regulierungsdruck aus. Reißerische Medienberichte machen in besonderem Maß die Hilflosigkeit und Haltung des „Systems“ deutlich.
Das vorliegende Buch richtet einen breit angelegten Blick auf diese Nische erzieherischer Hilfen. In Form von Praxisberichten, konzeptionellen und theoriebasierten Überlegungen, Forschungsergebnissen, historischen Rückblicken und dem Einbeziehen fachverwandter Aspekte wird eine Rückschau und ein Blick in die Zukunft ermöglicht.
Es ist auch eine Publikation gegen das Vergessen der Menschen, die sich mit viel Fachlichkeit, Herzblut und Risikobereitschaft dem Aufgabenfeld einer besonders benachteiligten Zielgruppe zugewandt haben: Sie kommen zu Wort und finden Erwähnung. Die einzelnen Artikel sind ebenso als Impuls gedacht, sich mit der Historie und mit den Aspekten einer zukunftsfähigen Weiterentwicklung der Individualpädagogik auseinander zu setzen. Eher (wieder einmal) ein Beginn als ein Abschluss.
Vorwort der Herausgeber
Diese Publikation ist ein Experiment, von dem wir noch nicht wissen, wie es enden wird. Entweder geht es in der Vielfalt der Pädagogikliteratur unter, wird vielleicht gar nicht wahrgenommen oder, so unser Wunsch, es wird als Impuls angesehen, die historische Entwicklung und Bedeutung der „Individualpädgogik“ etwas mehr in den Blick zu nehmen und an deren Wirksamkeit und Qualität weiterzuarbeiten.
Nach wie vor werden jungen Menschen, die in und mit den angebotenen Erziehungshilfestrukturen nicht zurechtkommen als „Systemsprenger“ bezeichnet. Damit wird die Verantwortung für ihr „Versagen“ individualisiert und an die jungen Menschen selbst und deren Familien abgegeben, deren Ausgrenzung und Stigmatisierung geht weiter. Das System stellt sich selbst eher nicht in Frage, obwohl viele der jungen Menschen genau daran scheitern. Die seit Jahren bestehende und empirisch belegte hohe Quote der ungeplanten Abbrüche in stationären Hilfen, besonders bei Jugendlichen, spricht eine deutliche Sprache.
Genau für diese Jugendlichen wurde seit dem Wandel vom JWG (Jugendwohlfahrtsgesetzt) als sog. „Eingriffsgesetz“ zum SGB VIII (das die Herkunftsfamilie als Hilfeempfänger in den Blick nahm) in den 90er Jahren, zunächst von einigen „Exoten“ dann von mehr und mehr sich entwickelnden Trägern, „Individualpädagogik im In und Ausland“ konzeptioniert und angeboten. Die Erlebnispädagogik und sport-, bewegungs- und kunstpädagogische Elemente (Ressourcenorientierte Pädagogik) standen ebenso Pate.
Etliche empirische Untersuchungen belegen die hohe Wirksamkeit und den Erfolg derartiger Hilfen. Im Laufe der Zeit wurden die bestehenden qualitativen Standards weiterentwickelt, Selbstverpflichtungen erarbeitet, Mitarbeitende fachlich ausgebildet und gesetzliche Anpassungen vorgenommen, die die oben genannten Effekte noch unterstützen. Trotzdem wurde die Diskussion um diese Hilfen weiter sehr stark durch ideologische Aspekte bestimmt und wenige, sehr unfachlich agierende öffentliche und private Träger bestimmten durch ihre oft strafrechtlich relevanten Handlungsweisen die öffentliche Diskussion.
Die jungen Menschen UND die angebotene individualisierte Hilfeform erleben hier das gleiche Schicksal einer eher stigmatisierenden und nicht einer fachlich fundierten Beurteilung. Durch die Politik initiierte inländische und europäische Verordnungen benachteiligen ganz aktuell besonders die sozial ausgegrenzten jungen Menschen in besonderem Maß und ermöglichen ihnen keine Teilhabe am interkulturellen Austausch und am sozialen Lernen, die Ablehnung einer Systemverantwortung geht weiter.
Auch ein, dieser Hilfeform gegenüber nicht gerecht werdender „kritische“ Blick hat uns veranlasst, mit den nachfolgenden Artikeln die erfolgreiche Entwicklung der „Individualpädagogik“ zu dokumentieren.
Gleichzeit ist diese Publikation ein Versuch, denjenigen Gehör zu verschaffen, die sich seit einer Vielzahl von Jahren praktisch und theoretisch mit diesem Angebot erzieherischer Hilfen auseinandergesetzt und es damit wesentlich mit geprägt haben.
In unserer schnelllebigen Zeit gehen historische Zusammenhänge sehr oft verloren. Menschen, die Entwicklungen angeregt, Initiative ergriffen, Konzepte entwickelt und umgesetzt haben geraten vielfach in Vergessenheit auch deshalb, weil ihr praktisches Handeln wenig Zeit ließ, auch noch politische Statements, verbandliches Engagement oder Öffentlichkeitsarbeit zu ermöglichen.
Und so finden Sie als Leser auf den folgenden Seiten, nach unserem Vorwort viele Fachartikel, die sich mit der Historie, mit der Grundhaltung und Ethik, mit praktischen und konkreten Konzepten und deren erfolgreiche Umsetzung, mit einem fachphilosophischen Blickwinkel der „Individualpädagogik“ aber auch mit prägenden angrenzenden „Pädagogiken“ beschäftigen. Sie wurden von Fachleuten verfasst, die in meist sehr konkreter Form in Praxis und Forschung zur Entwicklung individualpädagogischer Hilfen beigetragen haben.
Sicherlich ist es uns nicht gelungen, alle Aspekte dieser Hilfeform eingehend und mit angemessener Tiefe zu beleuchten, bei der Vielfalt der Angebote und Ansätze und der Protagonisten ein schier unmögliches Unterfangen. Wie gesagt, wir verstehe unsere Publikation als Impuls, der vielleicht von anderen Autoren weiter aufgegriffen und vertieft werden kann.
Ergänzt werden diese Fachartikel durch die Betrachtung sog. „verwandter pädagogischer Ansätze“ wie die „Erlebnispädagogik“ und die „Ressourcenorientierte Pädagogik“. Sie sind und waren Bestandteile individualpädagogischer Hilfen, der Begriff „Erlebnispädagogik“ wurde in den Anfängen synonym dafür benutzt und viele aktuelle Hilfeangebote integrieren nach wie vor Elemente davon. Erst im Laufe der Weiterentwicklung individualpädagogischer Ansätze wurde auch eine begriffliche Trennung vollzogen. Wir wollen allerdings diese Wurzeln nicht in Vergessenheit geraten lassen. Sie sind nicht nur fachhistorisch wichtig, sondern nehmen auch die Menschen in den Blick, die sich an dieser Entwicklung beteiligt waren. Neben den Fachartikeln finden Sie in einem zweiten Teil eine Sammlung von „Protagonisten“ individualpädagogischer Hilfen. Sie haben diese Hilfeform in Deutschland entwickelt, umgesetzt, beforscht und (fach-) verbandlich und (fach-)politisch vertreten und mit geprägt.
Sie sind eine Ansammlung und ein riesiges Potential an fachlicher, menschlicher und ethischer Kompetenz. Von Ihnen ging und geht Innovation, „Unternehmertum“ im Sinne von „etwas mit jungen Menschen machen und unternehmen“, pädagogisches Herzblut und Freude am Gestalten aus. Auch hier ist es aus unterschieidlichen Gründen unmöglich Alle zu erwähnen und einen Platz zu geben. Manche sind leider schon verstorben, andere lehnen eine solche Darstellung aus Bescheidenheit ab, wieder andere sind nicht mehr erreichbar oder wollen als Pensionisten die gewonnene Freiheit und Distanz zum beruflichen Leben weiter bewahren. All dies wollen wir respektieren und möglicherweise haben wir auch Kolleginnen und Kollegen schlichtweg übersehen oder nicht mehr in Erinnerung rufen können. Dafür bitten wir schon jetzt um Vergebung und auch hier gilt der Gedanke des obigen Impulses.
Der Titel, „Damit Geschichte Zukunft bleibt“ ist sehr bewusst gewählt. Unsere Idee, die Historie und betreffende Menschen in Erinnerung zu rufen und sich damit auseinander zu setzen, soll gleichzeitig als Aufruf verstanden werden, die Zukunft der Individualpädagogik konstruktiv und zum Wohle der jungen Menschen weiterzuentwickeln und zu gestalten.
Jeder junge Mensch, welches persönliche Schicksal er auch unverschuldet erleiden musste, hat es mehr als verdient, die individuelle Unterstützung zu erhalten, die ihm eine selbstbestimmte Teilhabe am Leben ermöglichen kann. Dies umzusetzen ist eine ethisch-humanistische und gesellschaftliche Verpflichtung und gleichzeitig gesetzlicher Auftrag. „Individualpädagogische Hilfen im In- und Ausland“ sind eine Möglichkeit der Erzieherischen Hilfen dies umzusetzen, ganz besonders dann, wenn den jungen Menschen noch mehr Ausgrenzung und Stigmatisierung droht. Derartige Angebote verdienen es, das hat die Vergangenheit gezeigt, nicht fachlich geächtet oder weiter politisch gegängelt, sondern in ganz besonderem Maße wertgeschätzt und gefördert zu werden, eben weil sie oft die einzig mögliche Form der Umsetzung von Hilfen für diese junge Menschen sind. Alles andere bedeutet Scheitern.
In diesem Sinne wünschen wir Interesse,
Spaß und Freude am Lesen
Die Herausgeber
Rezension
Rezension von Svenja Rehse M.A., Dozentin Pädagogik (Fach-/Hochschulen) und Kunsttherapie für socialnet.de
Thema
Das Buch „Damit Geschichte Zukunft bleibt. Impulse zur Individualpädagogik in Deutschland“, erschienen 2023 im Ziel Verlag ist herausgegeben von Joachim Glörfeld, Eckart Knab, Peer Saalström-Leyh, Norbert Scheiwe. Es ist eine Aufsatzsammlung im Umfang von 282 Seiten. Dargestellt sind zumeist wissenschaftliche Texte aus dem soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Kontext über die Entstehungsjahre der Individual- und Erlebnispädagogik in Deutschland. Auch einige Berufspraktiker berichten über ihre teils spezifische erlebnispädagogische Pionierarbeit (z.B. Segelschiff). Die Annäherung und Erinnerung an die Anfänge der Individualpädagogik in Deutschland erfolgt im Buch mittels verschiedener Formate (Aufsätze, Dokumentation und Auswertung eigener wissenschaftlicher Studien, strukturelle Veränderungen im Jugendhilfegesetz und die Auswirkungen, Vorträge, Biografien, Fallberichte). Die Publikation bildet die Forschungsthemen, -tätigkeiten und Erkenntnisse der „Altväter der Erlebnispädagogik“ seit den 1970er-Jahren ab und holen damit eine Verschriftlichung nach, die zur damaligen Zeit aus unterschiedlichen Gründen nicht geleistet wurde/werden konnte.
Es kommen in dieser Publikation fast ausschließlich Männer zu Wort, zwei der 25 Aufsätze wurden von Frauen verfasst.
Autor:in oder Herausgeber:in
Die Herausgeber haben naturgemäß unterschiedliche berufliche Hintergründe, sind aber allesamt engagierte Pioniere der Individual- und Erlebnispädagogik in Deutschland in der Reformphase vom Reichswohlfahrtsgesetz (RJWG) zum SGB VIII (1990) und den darin liegenden Chancen. So sind die Autoren Forscher und auch Gründer von individual- und erlebnispädagogischen Vereinen, Stiftungen etc.: Joachim Glörfeld ist Gründer und langjähriger Geschäftsführer des Vereins Wellenbrecher e.V., Dortmund, Eckart Knab ist Psychologe, Privatdozent und Gründer des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ), Mainz, Dr. Peer Saalström-Leyh ist Kapitän, Sozialpädagoge und Gründung der Stiftung Leuchtfeuer, Köln und Norbert Scheiwe ist Privatier, Dipl. Sozialpädagoge, Caritasrektor i.R., Breisach.
Entstehungshintergrund
Die Publikation „Damit Geschichte Zukunft bleibt“ wird im Vorwort eingeführt als „Experiment“, mit dem großen Wunsch und Ziel der Herausgeber damit einen nachhaltigen Impuls in der Pädagogikliteratur zu setzen. Die historische Entwicklung und Bedeutung der Individualpädagogik seit den 1970er-Jahren in den Blick zu nehmen, an deren Wirksamkeit und Qualität weiterzuarbeiten ist der Ansatz aller beteiligter Autor:innen. Perspektivisch aus der Historie und den Aktivitäten der beteiligten Pädagog:innen und Wissenschaftler:innen die Zukunft der Individualpädagogik konstruktiv und zum Wohle der jungen Menschen weiterzuentwickeln und zu gestalten ist das erklärte Ziel. Dafür gibt es – wie die beteiligten Autor:innen aufzeigen – auch weiterhin viele Möglichkeiten und noch viel zu tun. Entscheidende Grundlage ist die Reform des Jugendhilfegesetzes von 1990. Das SGB VIII löste das alte Jugendwohlfahrtsgesetz ab. Es vollzog dadurch einen Paradigmenwechsel und begründet inhaltlich z.B. den Anspruch auf individuelle Förderung Heranwachsender in der Jugendhilfe, bot vielfältige neue Hilfeansätze wie eben auch Individualpädagogischer Hilfen.
Die Herausgeber beabsichtigen eine Dokumentation der erfolgreichen Entwicklung der Individualpädagogik. Einige Aufsätze/Studien erbringen z.B. empirische Belege der hohen Wirksamkeit. Andere Beiträge wollen eine Lücke der Aufbereitung schließen und Projekte und Ergebnisse nachzuhalten, da während der Anfänge der Individual- und Erlebnispädagogik oft versäumt wurde, die Projekte zu verschriftlichen, sodass dadurch ein Stück Geschichte und Professionsentwicklung im Prozess verloren gingen. Intention der Herausgeber ist es weiterhin, die durch reißerische Presse massiv in Verruf geratene Individualpädagogik der 1970er-Jahre in all ihren Ausprägungen und Facetten sorgfältig und methodisch klar aufzubereiten, das Bild der Individual- und Erlebnispädagogik in der breiten Öffentlichkeit geradezurücken, die ideologischen Aspekte der Diskussion im Nachhinein zu relativieren und die Möglichkeiten und die Wirksamkeit individualpädagogischer Interventionen durch die gesammelten Aufsätze theoretisch wie praktisch fachlich zu fundieren.
„Das Zentrum für interdisziplinäres erfahrungsorientiertes Lernen (ZIEL) wurde 1998 mit Unterstützung des Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst gegründet und arbeitet eng mit der Universität Augsburg zusammen. ZIEL ist im sozialen und pädagogischen Bereich aktiv, führt auch Non-Profit-Unternehmungen durch und ist außerdem in Forschung und Lehre tätig“ (https://e-und-l.de/ 23.06.2024). Eine große Anzahl von Fachpublikationen unter anderem die Zeitschrift Erleben und Lernen (e&l) wurden und werden im Ziel-Verlag produziert.
Aufbau
Die Publikation beinhaltet 25 Artikel im Umfang von 5–25 Seiten. Im Schnitt sind es 8–11 Seiten je Artikel. Es gibt einige, sehr wenige schwarz-weiß Bilder, einige wenige Schaubilder und 2x eine doppelte Autorenschaft.
Das Buch besteht aus fünf Kapiteln:
- Impulse zur Individualpädagogik (22 Aufsätze)
- Fachliche Verwandtschaft prägt (3 Aufsätze)
- (18) Protagonisten der Individualpädagogik
- Einen Ausblick wagen (ein Aufsatz)
- Autoren und Herausgeber
Kapitel I umfasst folgende 22 Autoren und Aufsätze:
- Dr. Kurt Frey: Erlebnispädagogik, Impulse zur Veränderung
- Prof. Willi Klawe: Das Ausland als Lernfeld und Entwicklungschance in der Individualpädagogik
- Hans G. Bauer: Das mit dem Erleben… eine gelebte Montage
- Dr. Michaela Emmerich: Gelingensbedingungen individualpädagogischer Betreuung – eine Fallskizze
- Peter Krause: Januskopf oder Nähe und Distanz in der Individualpädagogik
- Dr. Ferdinand Bitz: Die neuen Leiden des Thantalos. Eine zivilisationskritische Verortung des erlebnispädagogischen Handlungsbedarfs in der Risikogesellschaft
- Prof. Dr. Werner Michl: Ein erlebnispädagogischer Blick auf das SGB VIII
- Peter Ortmann: Der HAJK – eine Kurzdarstellung für gruppen- und individualpädagogische Maßnahmen
- Joachim Klein und Prof. Dr. Michael Macsenaere: Individualpädagogische Hilfen im Ausland – Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit. Die zentralen Ergebnisse der beiden InHAus-Studien
- Jürgen Reinfandt: Ichglaube da fliegt ein Stern
- Heike Lorenz: Wir müssen reden. Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit für individualpädagogische Hilfen im Ausland – ein Statement
- Dr. Thomas Heckner: Anschluss durch Abschluss. Bindungstheoretische und ressourcen-orientiert Aspekte der Individualpädagogik
- Wolfgang Liegel (+): Beziehungspädagogik
- Elisabeth Opladen: Empathie versus pädagogische Technik. Eine Würdigung des Erlebnis- und Segelpädagogen Klaus Freudhammer, Namensgeber des iiip-Preises
- Rainer Opladen (+2017): Die Anfänge der Erlebnis-/Individualpädagogik im Rheinland
- David Büchner: Impulse für’s Leben – alte Idee in neuem Gewand.
- Ingo Rülke: Unterricht auf einem Segelschiff
- Michael Hennes: Gewöhnen sie sich an die Veranstaltungen über Systemsprenger. Sie werden sie auch noch in zehn Jahren besuchen. Oder: was Pflegekinder und Systemsprenger gemeinsam haben.
- Joachim Bory: Über den Beginn erlebnispädagogischer Maßnahmen im Neukirchner Erziehungsverein. Vom Einzelfall zur Abteilung „Individualpädagogik“
- Joachim Bory und Wolfgang Liegen (+): Chancen und Grenzen der Erlebnispädagogik in Jugendhilfemaßnahmen
- Norbert Scheiwe: Aus den Erfahrungen lernen. Praktische Beispiele europäischer Zusammenarbeit auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela
- Norbert Scheiwe: Kooperation und Innovation. Das „Europäische Forum für soziale Bildung e.V.“/European Forum for Social Education
- Kapitel II: „Fachliche Verwandtschaft prägt“ umfasst die drei Aufsätze
- Prof. Werner Nickolai: Erlebnispädagogik in der Straffälligenhilfe
- Prof. Dr. Jörg W. Ziegenspeck: Erlebnispädagogik – eine Wissenschaftsdisziplin zwischen Theorie und Praxis
- PD Dr. Eckhart Knab: Ressourcenorientierte Pädagogik
Im Kapitel III: Protagonisten der Individualpädagogik und Protagonisten ohne Bild und Text werden 18 renommierte und inhaltlich prägende Akteure der Individualpädagogik auf je einer bis drei Seiten mit Foto und ihrer beruflichen Vita vorgestellt. 31 weitere Personen werden in Form einer Liste erinnert, wenngleich sie kein Bild oder Beitrag bereitgestellt haben, einige (aus beiden Kapiteln) sind bereits verstorben.
Im Kapitel vier: Einen Ausblick wagen appelliert David Wimble an Akteure der hochschulischen Ausbildung von Sozialpädagog:innen und den aktuellen Bedarf und die Notwendigkeit, mehr oder überhaupt über Individualpädagogik und ihre Facetten zu lehren. Positiv werden Praktikumsmöglichkeiten der Träger der Jugendhilfe erwähnt, die an die Hochschulen herangetragen werden, um Studierende mit Möglichkeiten der Individualpädagogik in Kontakt zu bringen. Administrative Aktivitäten nach der SGBVIII Reform 2021 und eine bundeslandspezifische Interpretation der Individualpädagogik sowie z.B. das Thema Betriebserlaubnis sind nach Wimble weitere neue Herausforderungen. Das Bestreben, langfristig eine Marschroute der Individualpädagogik zu entwickeln sei und bleibe ein langer und komplexer Prozess und Aufgabe aller Beteiligten.
Das fünfte Kapitel: Autoren und Herausgeber stellt diese schließlich im Umfang von zwei Seiten vor.
Inhalt
Das Buch ist durchzogen von der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Herausforderungen des SGBVIII im Bereich der Individualpädagogik. Flexible Hilfen im In- und Ausland, Reise- und Standprojekte, auf Segelschiffen, in der Wildnis und generell der Zugang zu diesen damals neuen Möglichkeiten und die praktische Umsetzung werden wissenschaftlich aufbereitet, durch praktische Beispiele oder durch eine Würdigung besonders aktiver und engagierter Pioniere, die viel Kraft und Zeit in den Aufbau diese Arbeit gegeben haben, präsentiert. Deutlich ist die Abgrenzung von der damals vorherrschenden Negativpresse über diese Angebote, vorsichtig und sachlich werden Fakten zusammengetragen und die Rechtslage zitiert.
Offen und teils schonungslos wird auch von den durchaus auftretenden Schwierigkeiten in der Umsetzung berichtet, die sowohl die Jugendlichen, eher aber die behördliche Seite betrifft. Viele Artikel stellen die Bedeutung von Beziehungsarbeit besonders heraus und erarbeiten generell Grundlagen und Begründungen, was warum und wie in der Individualpädagogik pädagogisch und entwicklungspsychologisch-biografisch passieren kann und bemühen sich um Nachweise und wissenschaftliche Belege der Wirksamkeit. Der Beginn der Individualpädagogik verlief wesentlich durch Einzelkämpfer, Pädagog:innen mit einer starken Vision, wenngleich Werner Michl in seinem Beitrag Kooperation und Vernetzung propagiert und sich auch frühzeitig bereits Berufsverbände und Initiativen gegründet haben – u.a. um Standards zu entwickeln für ein Aufgabengebiet, das mit „Rezepten“ aber auch nicht arbeiten kann.
Es kommen Autor:innen aus Nord- und Süddeutschland zu Wort und naturgemäße bieten Berge und Meer regionale Möglichkeiten, aber auch unterschiedliche Wege und Gesetzesauslegungen werden offenbar, zum Beispiel, was die Rechtsauslegung zum Thema Betriebserlaubnis betrifft.
Im Beitrag von David Büchner: Impulse für’s Leben – alte Idee in neuem Gewand (S. 151 - 155) werden individualpädagogische Impulsprojekte bei den flexiblen Hilfen im Campus Christophorus Jugendwerk in der Dauer von 4–6 Wochen vorgestellt und kritisch untersucht.
Vorläufer waren Pilgerreisen auf dem Camino de Santiago mit 1:1 Projekten 2017–18.
Vorteile der zeitlichen Überschaubarkeit und Erlebnisorientierung, die Elemente: Laufen in dieselbe Richtung, Nachdenken, Begegnungen sowie intensive Beziehung zur Betreuungsperson mit allen positiven Faktoren werden Ausgangspunkt für eine Vielzahl weiterer (Kurzzeit-)Angebote und Schwerpunkte im europäischen Ausland (Frankreich, Spanien, Portugal, Mittelmeerinseln und Kanaren). Konkrete Optionen für teilnehmende Jugendliche sind die Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken und Schwächen und die Formulierung des aktuellen Standpunktes/der Bedarfe an künftigen Jugendhilfeangeboten. Ebenso spricht David Büchner Möglichkeiten der Kooperation mit Jugendhilfe im Bereich Strafverfahren an. Nach insgesamt 80 durchgeführten Impulsprojekten zieht er eine durchweg positive Bilanz der Flexiblen Hilfen im Campus Christophorus Jugendwerk und sieht in dieser Hilfeform großes Zukunftspotenzial, weil und da sie Jugendlichen Perspektiven und Hoffnung geben kann.
Ingo Rülke beschreibt in seinem Artikel (156-166) Unterricht auf einem Segelschiff aus der Position und Rolle des mitreisenden Lehrers und zeigt auf, wie die Beziehungsgestaltung und auch der Wiedereinstieg in das Lernen erfolgreich funktionieren können. Die Besonderheiten des handlungsorientierten Unterrichts im Gegensatz zu konventionellem Lernen im konventionellen Schulsystem werden als große Chance und Türöffner für die Jugendlichen erlebt, Erfolge zeigen sich in der Fortsetzung der schulischen Laufbahn bis hin zum Schulabschluss mit externer Prüfung. Auch das besondere Leben, Zusammenleben und Vertrauen und Verantwortung der Crew auf einem Segelschiff wird vom Verfasser dokumentiert.
Neben diesen beiden eher praxisorientierten Aufsätzen gibt es viele Artikel, die sich theoretisch und auf wissenschaftlichem Niveau mit Grundlagenforschung befassen, einige, die den Rechtsrahmen und die teils sehr komplexe und komplizierte Umsetzung mit ambitionierten, „abenteuerlichen“ Projekten und pädagogischen Ambitionen und die behördlichen Positionen beleuchten.
Diskussion
Dem ZIEL Verlag (Zentrum für interdisziplinäres erfahrungsorientiertes Lernen GmbH) ist mit der Publikation „Damit Geschichte Zukunft bleibt – Impulse zur Individualpädagogik in Deutschland“ von Joachim Glörfeld, Eckart Knab, Peer Saalström-Leyh, Norbert Scheiwe (Hrsg.) und den darin versammelten Aufsätzen vieler damaliger renommierter Berufspraktiker:innen eine prägnante Übersicht über die Anfänge der Individualpädagogik gelungen.
Der durch die SGBVIII Reform und den damit einhergehenden Paradigmenwechsel, der sich als langwierig, komplex und vielfältig ausdifferenzierter Prozess darstellte, wird im Buch durch die vielen Facetten der Individual- und Erlebnispädagogik aufgezeigt. Insbesondere auch die reißerische Negativpresse über Auslandsprojekte galt es damals wie heute durch Wirksamkeitsstudien einzudämmen, wenngleich die Standardisierung der Individual- und Erlebnispädagogik ja gerade nicht einfach möglich ist. Die Bemühungen der damaligen pädagogischen und soziologischen Pioniere, die Gründung von Vereinen, Stiftungen, Berufsverbänden, Forschungen und Dokumentationen etc. zeigen, dass an vielen Fronten hart an einer Etablierung gearbeitet wurde, aber gleichermaßen und bis heute immer noch viele Aspekte brach liegen und inhaltlich, fachlich und strukturell weiterzuentwickeln sind, auch Aktivitäten und Protagonisten zu vernetzen und mit anderen Sozialpädagogischen Segmenten zu verbinden – was z.B. durch die Zeitschrift: Erleben und Lernen (E&L) ebenfalls bereits in den 1990ern initiiert wurde (https://e-und-l.de/ueber-die-zeitschrift/ 23.06.2024).
Die Publikation erinnert an eine Festschrift, die wertschätzend und wissenschaftlich aufbereitet, was in der damaligen Individual- und Erlebnispädagogik aufgrund gesetzlicher Regelungen „modern, neu und wagemutige Pionierarbeit“ ohne Netz und doppelten Boden war und ja auch von vielen unseriösen Betreibern von ISE-Maßnahmen (Intensiv-Sozialpädagogische Einzelfallhilfe) missbraucht wurde oder mit fahrlässigen bis hin zu strafbaren Handlungen der Pädagog:innen bzw. der Teilnehmenden endete.
Die Adressaten des Buches sind neben den „Altvätern“ der Individualpädagogik einerseits Wegbegleiter:innen und vielen Sozial-Pädagog:innen, die damals Projekte durchgeführt und nicht publiziert haben – andererseits aber auch die aktuellen Akteure der Jugendhilfe aus Theorie und Praxis mit ihren heutigen Themen, Herausforderungen und pädagogischen Interventionen. Hier eine Begegnung und Auseinandersetzung zu schaffen, kann mit den vorliegenden Artikeln und deren Vertiefung gelingen.
Studierende der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik, die als Nachwuchs mit der Individualpädagogik in Kontakt kommen brauchen, möglicherweise historische Übersetzungshilfe um den Generationenwechsel mit den heutigen Anforderungen und Rahmenbedingungen zu erfassen und daraus eigene Standpunkte und berufsfachlich fundierte Perspektiven zu entwickeln. Hierfür bietet der Beitrag von Prof. Dr. Jörg W. Ziegenspeck ein wertvolles Fundament. Das Buch versammelt Visionen und Idealisten, heutige Visionen der Individual- und Erlebnispädagogik müssen von den heutigen Akteuren neu entwickelt werden. Ansätze dafür werden aufgezeigt.
Im Buch werden über die Individual- und Erlebnispädagogik keine Heilversprechen oder Rezepte gegeben, keine Manipulationen durch die abenteuerlichen Projekte vorgenommen, sondern es werden wissenschaftliche, sachliche und schonungslose Berichterstattungen geliefert, die sich sehr von Scharlatanerie abgrenzen und von schwarzen Schafen der Individualpädagogik distanzieren.
Erziehung und Bindung sind Themen, die an Aktualität nicht verlieren und in der Sozialen Arbeit immer wieder präsent sein müssen. Wichtig scheinen letztlich immer die individuelle Passung und Absprache und der kontinuierliche Prozess der Beziehungsgestaltung. Entscheidungen sind daher immer individuell: welche:r Pädagog:in mit welche:m Jugendlichen, wo, wann, wie lange und mit welcher Themen- und Zielstellung welches Projekt durchführt. So werden in keinem Aufsatz Bezüge zu Themen wie Grenzen von Erziehung/Therapie, Trauma und Persönlichkeitsstörungen hergestellt oder die Klientel aus entwicklungspsychologischer Sicht differenzierter thematisiert. Diese Themen müssen bei der Projektgestaltung mitbedacht und fachlich aufgefangen werden.
Formal ist anzumerken, dass das Erscheinungsdatum der Aufsätze ergänzt werden könnte und wenige Rechtschreibfehler übersehen wurden.
Fazit
Ein prall gefülltes Buch mit Aufsätzen ambitionierter und prägender Akteure der Individual- und Erlebnispädagogik, zusammengetragen von einem Herausgeberteam aus der langjährigen Praxis. Die Artikel sind wissenschaftlich und anspruchsvoll und zeigen in der Rückblende die Aufbruchsstimmung in der Individual- und Erlebnispädagogik aufgrund neuer sozialpolitischen Gegebenheiten. Als Vorläufergeneration haben die Autor:innen wesentliche und damals maßgebliche Grundlagen entwickelt, inwieweit diese noch wegweisend für die heutige Soziale Arbeit in der Jugendhilfe(-politik) sind, mögen insbesondere Berufsanfänger:innen mit eigenen Projekten und Forschungen beleuchten und die Tradition damit fortsetzen.