Rezensionen
Erlebnispädagogik ist in den zurückliegenden Jahren zunehmend in das öffentliche Interesse gerückt. In der Bildungslandschaft, im Freizeitbereich, in der Sozial- und Jugendarbeit nimmt sie inzwischen einen festen Platz ein. Das Buch gibt einen Überblick über das facettenreiche Spektrum erlebnispädagogischer Aktivitäten, unterschiedliche Konzepte, Handlungsfelder und Zielgruppen, aktuelle Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, den gegenwärtigen Diskussionsstand und die einschlägige Literatur. Kurz: Der Autor bietet einen informativen Orientierungsrahmen über theoretische Grundlagen der Erlebnispädagogik wie auch Anregungen für die praktische Arbeit.
Thomas Thiel, Redakteur von »Welt des Kindes«, Ausgabe 04/2023
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens für socialnet.de
Thema
Das Thema des Buches ist die Erlebnispädagogik als „ein handlungsorientiertes Erziehungs- und Bildungskonzept“, um aus der Kurzdefinition des Autors (S. 21) zu zitieren. Andernorts liest man gar von einem „Gegenkonzept“ (Baig-Schneider, 2012); ob uns das weiter bringt als frühere Kennzeichnungen der Erlebnispädagogik wie „Methode“ oder „Teilwissenschaft der Pädagogik“? Und werden damit nicht nur neue erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen aufgeworfen, ohne dass alte beantwortet wären? Jede(e)r Leser(in) des Buches wird sich hier seine Meinung selbst bilden müssen.
Das Wort „Einführung“ suggeriert, es gäbe ein klar umrissenes, wohl definiertes und übersichtlich geordnetes Feld, in das da eingeführt würde. Das mag in Fällen wie „Einführung in das Neue Testament“ oder „Einführung in die Sozialpsychologie“ ein einigermaßen gerechtfertigter Gedanke sein, im vorliegenden Falle aber würde er nur Illusionen nähren. Und das (schon? auch?) deshalb, weil „Erlebnispädagogik“ eine Begrifflichkeit ist, die jenseits des deutschen Sprachraums nur von wenigen Spezialisten überhaupt verstanden wird. Was deutsche Erlebnispädagog(inn)en tun, findet sich im angelsächsischen Sprachraum – und dort ereignet sich, weltweit betrachtet, der größte Teil von „Erlebnispädagogik“ (sowohl in der Praxis als auch im Diskurs) – unter Begrifflichkeiten wie „Adventure Education“, „Adventure Therapy“, „Outdoor Adventure“, „Outward Bound“, „Project Adventure“, „Ropes Challenge“ und „Wilderness Challenge“.
Beim Überschreiten des Ämelkanals ließ Kurt Hahn, der Erfinder der Erlebnistherapie und Begründer der Outward Bound-Bewegung das bedeutungsschwere und sehr „deutsche“ Konzept des Erlebnisses zurück. Wir, seine Enkel aus dem deutsch(sprachig)en Raum mühen uns damit bis heute ab (auch das hier zu rezensierende Buch), ohne dass mir erkenntlich(er) würde, welchen Gewinn wir von solcher Mühe hätten. Vielleicht hat die Generation nach uns, die wir die „Moderne Erlebnispädagogik“ in Gang gebracht haben, den Mut, sich vom Begriff der „Erlebnispädagogik“ zu verabschieden und stattdessen – in Analogie zu dem im deutschen Sprachraum gut verankerten Begriff der „Experienziellen Psychotherapie“ (vgl. Heekerens & Ohling, 2005) und in Parallelität zum angelsächsischen „Experiential Education“ – von „Experienzieller Pädagogik“ zu sprechen. Faktisch ist das hier zu rezensierende Buch eines über „Experienzielle Pädagogik“, was sich im Inhalt entfaltet und in der früh präsentierten Definition des Buchgegenstandes (oder -themas) anzeigt: „Erlebnispädagogik ist ein handlungsorientiertes Erziehungs- und Bildungskonzept. Physisch, psychisch und sozial herausfordernde, nicht alltägliche, erlebnisintensive Aktivitäten dienen als Medium zur Förderung ganzheitlicher Lern- und Entwicklungsprozesse. Ziel ist es, Menschen in ihrer Persönlichkeitsentfaltung zu unterstützen und zur verantwortlichen Mitwirkung in der Gesellschaft zu ermutigen.“ (S. 21) Von Erlebnispädagogik in diesem Sinne mit ihrer eigener Geschichte (historische Identität), ihren besonderen theoretischen Bestimmungsstücken (theoretische Identität) und ihren spezifischen Handlungsansätzen (praktische Identität) ist im vorliegenden Buch die Rede.
Autor
Der Autor kommt von der Pädagogik (zunächst Grund- und Hauptschulpädagogik, später Freizeit- und Sozialpädagogik sowie Erwachsenenbildung) her auf das Feld der Erlebnispädagogik zu. Mit dem Gedankengut einer „Experienziellen Pädagogik“ war er schon vertraut, bevor er diese in Gestalt eines ihrer prominentesten Vertreters gleichsam „hautnah“ erleben durfte: Während des Wintersemesters 1998/99 war Simon Priest, eingeladen vom Lehrstuhl für Sportpädagogik und mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Gastprofessor an der Universität Augsburg, wo er sich auch aktiv am „Hochschulforum Erlebnispädagogik” und am Kongress “erleben und lernen” beteiligte. Von 1967 bis 2006 war der Autor Dozent für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule bzw. Universität Augsburg, an deren Sportzentrum er einen Lehrauftrag für Erlebnispädagogik hatte. Ohne den dortigen Ordinarius Helmut Altenberger wären die Kongresse „erleben und lernen“, das „Hochschulforum Erlebnispädagogik“ und die „Interdisziplinäre Initiative Erlebnispädagogik“ (iie) schwerlich denkbar (gewesen).
Entstehungshintergrund
Ein weiterer iie-Mitarbeiter ist der frühere Paffrath-Student Michael Rehm, heute u.a. Geschäftsführender Gesellschafter des Zentrums für interdisziplinäres erfahrungsorientiertes Lernen GmbH (ZIEL, www.ziel.org) und Leiter des „Informationsdienstes Erlebnispädagogik“. Über diesen Dienst (www.erlebnispaedagogik.de), der „Erlebnispädagogik“ übrigens mit „Experiential Education and Adventure-Based Learning“ übersetzt sowie über den Ziel-Verlag mit der nunmehr einzigen deutschsprachigen Zeitschrift für Erlebnispädagogik („erleben & lernen“) sowie den beiden einzigen Reihen für erlebnispädagogische Publikationen (die aus Lüneburger Erbmasse übernommene „edition erlebnispädagogik“ und der originären „Gelben Reihe“, in der auch das vorliegende Buch erscheinen ist) verfügt ZIEL in der deutsch(sprachig)en Erlebnispädagogik über einzigartige Definitionsmacht. Was ZIEL bislang fehlte, war eine Einführung in die Erlebnispädagogik aus dem eigenen Haus. Eine solche „Augsburger Einführung“ liegt mit dem hier zu rezensierenden Buch nunmehr vor. Damit ist nicht ignoriert, dass in der „Gelben Reihe“ kurz zuvor Rainald Baig-Schneiders „Die moderne Erlebnispädagogik“ (2012) erscheinen war; dabei aber handelt es sich nicht um ein Hausgewächs: Rainald Baig-Schneider ist Wiener und sein Buch wurde bereits 2010 von einem anderen Verlag verlegt.
Aufbau
Das Buch besteht im Hauptteil aus neun Kapiteln (höchst unterschiedlicher Länge):
Zur aktuellen Situation der Erlebnispädagogik (20 Seiten)
Erlebnispädagogik hat Tradition – Zur geschichtlichen Entwicklung (18 Seiten)
Theoretische Grundlagen (Konzeption und methodischer Ansatz (7 Seiten), Leitende Prinzipien (15 Seiten), Ziele (9 Seiten), Erlebnispädagogische Lernszenarien (16 Seiten))
Die Praxis (Klassische Outdoor-Aktivitäten in der Natur (27 Seiten), Neue Lernorte und Lernszenarien (25 Seiten), Handlungsfelder und Zielgruppen (45 Seiten))
Wie wirksam ist die Erlebnispädagogik? (14 Seiten)
Was muss ein Erlebnispädagoge können? (10 Seiten)
Wie wird man Erlebnispädagoge? (6 Seiten)
Anbieter im Bereich der EP – Firmen, Unternehmen, Institutionen (4 Seiten)
Resümee und Ausblick (3 Seiten)
Diesem Hauptteil voran stehen: eine Widmung, ein fünfseitiges Inhaltsverzeichnis (nur auf eine Stelle nummeriert, aber auf drei Tiefen gegliedert), ein zweiseitiges Vorwort und eine einseitige Einleitung. Dem Hauptteil folgen: 23 Seiten Quellen- und 6 Seiten Personenverzeichnis sowie ein einseitiges Autorenporträt.
Inhalt
Das ausführliche Quellenverzeichnis ist ein guter Ausgangspunkt für vertiefende Nachforschung in und zu einzelnen interessierenden Aspekten, und das Personenverzeichnis leistet dabei wertvolle Hilfe. Das Vorwort vermittelt Eindrücke zum Entstehungshintergrund des Buches und – in Verbindung mit dem Autorenporträt – zum Autor; die Einleitung bietet eine konzentrierte Inhaltsangabe des Hauptteils.
Der konstruiert im 1. Kapitel die aktuelle Situation der Erlebnispädagogik in Verbindung zur modernen Freizeit- und Erlebnisgesellschaft, nimmt erste begriffliche und inhaltliche Klärungen – darunter ein breiter Geltungsbereich und ein stark gefächerter Medienbegriff – vor.
Das 2. Kapitel rekonstruiert die historische Identität der Modernen Erlebnispädagogik unter Rückgriff auf die mehr als hundertjährige Geschichte der Reformpädagogik (einschließlich Kurt Hahn) und Tradition der Jugendbewegung, skizziert die kurze Geschichte der Modernen Erlebnispädagogik und verortet diese als Teil einer neuen Lernkultur.
Im 3. Kapitel steht die theoretische Identität der Erlebnispädagogik im Mittelpunkt. Mehr als theoretische Versatzstücke darf man sich hier realistischerweise – hier liegt kein Versagen des Autors, sondern eine Schwäche der Erlebnispädagogik vor – nicht erwarten. Man trifft auf viel Bekanntes wie Reflexions- oder Transfermodelle und -methoden; Erwägungen zu Modellvorstellungen von Erlebnis, Abenteuer und Wagnis und Überlegungen zu Konzepten wie Ganzheitlichkeit oder Grenzerfahrung. Überraschend ist, in wie viele Richtungen und wie oft der Autor diese einzelnen theoretischen Versatzstücke hin und her wendet, diese auch von ungewohnten Seiten her beleuchtet und sie in der Tradition der Pädagogik als kritischer Erziehungswissenschaft auf möglichen Gewinn und potentielle Gefahr hin abklopft. Die Kapitel 4 und 5 haben Fragen der praktischen Identität zum Gegenstand.
Das 4. Kapitel stellt „klassische“ Outdoor-Aktivitäten in der Natur ebenso vor wie neuere Lernorte und -szenarien (City Bound oder Kooperative Abenteuerspiele etwa) exemplarisch dar und benennt unterschiedliche Handlungsfelder und Zielgruppen – in einer Lebensspannenperspektive betrachtet: von der Elementarerziehung bis zur Geragogik.
Fragen der Wirksamkeit(sforschung) und deren Ergebnissen ist das das 5. Kapitel gewidmet.
Die anschließenden drei Kapitel widmen sich in knapper Form – aber immerhin überhaupt – Fragen, was Erlebnispädagog(inn)en können müssen (6. Kapitel), wie man (und frau) Erlebnispädagoge bzw. Erlebnispädagogin wird (Kapitel 7) und welche Anbieter von Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum auszumachen sind (8. Kapitel). Kapitel 9 greift zentrale Thesen des Buches noch einmal auf und öffnet Perspektiven für eine weiterführende Auseinandersetzung.
Diskussion
Beginnen wir beim Äußeren, von dem man weiß, dass es eben nicht nur eine Äußerlichkeit ist. Das Buch taugt vom Format her wenig dazu, auf Exkursionen mitgenommen zu werden; zumindest, sofern diese den in der Erlebnispädagogik sprichwörtlich gewordenen Parkplatz überschreiten. Mit einem Format von 20 X 24 cm ist es für übliche Daypacks unpassend und wirkt selbst im üblichen Tourenrucksack trotz Softcover sperrig. Aber wer außer wenigen Verrückten wie dem Rezensenten liest Bücher über Erlebnispädagogik denn am liebsten im Abend- und Morgensonnenschein auf Bergeshöhen? Auf dem Schreibtisch oder auch auf den Knien im Stadtpark macht sich das Buch wunderbar. Durch Druck auf Reystar matt (100 % Altpapier) mit seinem dezenten Grauton wirkt die Schrift (für die visuellen Feinschmecker: Text in Akzidenz Grotesk , Hauptüberschriften in Roties Semi Seris Plus) angenehm weich, was durch den Flatterrand des Textes noch verstärkt wird. Geschickt wird bei der Textgestaltung mit den Möglichkeiten von Normal-, Kursiv- und Fettdruck sowie unterschiedlichen Schriftgrößen operiert. Insgesamt ein Genuss fürs Auge.
Die einzelnen Kapitel des Buches sind ohne weiter differenzierende Nummerierung, die nur formalisierend und damit steif wirken würde, in drei Tiefenstufen binnendifferenziert durch in Fettschrift unterschiedlicher Stärke gehaltene Überschriften und in Kursiv gehaltene Stichwörter; Sinnabschnitte, die mitunter nur einen einzigen Satz umfassen, sind durch Absatz gegliedert. Mancher „klassisch-akademisch“ geschulte Leser mag eine solche Differenzierung, die pro Seite bis zu drei Teilüberschriften bzw. vier kursiv gesetzten Stichwörtern enthält, für übertrieben halten, der (unterstellte) durchschnittliche Leser dürfte erfreut sein. Kritisch könnte der angeführte „klassisch-akademisch“ geschulte Leser“ auch den häufigen Gebrauch von Gestaltungselementen wie Fotos, Zeichnungen (erhellend zum Beispiel: der allzu sehr in den Guide verliebte Guide auf S. 212), Grafiken (anschaulich beispielsweise: Wagniskurve nach Siegbert Warwitz) und Tabellen (prägnant etwa: Erlebnispädagogische Programmtypen / Arbeitsfelder, Ziele und Zielgruppen) sehen. Man kann über den Sinn und Zweck mancher der genannten Elemente streiten; die meisten dienen nach meinem Dafürhalten der Erkenntnis.
Das gilt selbst für einige Fotos, wenngleich ich in deren Mehrheit nichts weiter sehen kann als eine Referenz an eine anders als ich (seh-)sozialisierte jüngere Leserschaft. Zu den erkenntnisfördernden Fotos gehört für mich etwa das Wandervogel-Bild auf Seite 38. Es erinnert mich an meine Jungscharzeiten in den 1950ern, ohne die ich schwerlich Erlebnispädagoge geworden wäre. Was die Ausrüstung, von der persönlichen Kleidung angefangen bis zu Kochgeschirr und Zelt (Kothe, Jurte) anbelangt, hat sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sehr wenig, in der zweiten hingegen sehr viel getan. Und das führt zu einem ersten Desiderat (nicht nur) an dieses Buch. Wann wird man in einer „Einleitung“ zur Erlebnispädagogik einmal Ausführliches darüber lesen, wie sehr techn(olog)ische Entwicklungen, von der Funktionsunterwäsche bis zu High tech-Sportgeräten, sich auswirk(t)en auf erlebnispädagogisches Handeln. Ich bewerte die angesprochenen techn(olog)ische Entwicklungen als einen der bedeutsamsten Kontextfaktoren der Modernen Erlebnispädagogik und ich sehe diese in der erlebnispädagogischen Literatur bis heute nicht angemessen und systematisch behandelt. Dabei muss es doch noch mehr Menschen geben als mich, die in diesem Punkte ihre einschlägigen Erfahrungen haben. Ich selbst trat Ende der 1970er (vom ersten verdienten Geld) Reisen zum Kilimandscharo und in das damals eben erst geöffnete Zanskar nicht aus Geld- sondern wegen Materialmangel mit einer Ausrüstung an, mit der sich meine Studierenden ein viertel Jahrhundert später nicht einmal zu einer Wochenendtour durchs Ammergebirge gewagt hätten.
Was ich (auch) in dieser „Einführung“ ferner vermisse, ist eine vertieftes Nachdenken über die Beziehungsgestaltung zwischen Leitern und Teilnehmern erlebnispädagogischer Maßnahmen (vgl dazu Heekerens, 2012). Und worin ich (auch) von dieser „Einführung“ abweiche, ist die Einschätzung der Evidenz-Basierung der Erlebnispädagogik; die Maßstäbe anlegend, die hierzulande bei der (gesetzlich geregelten) Wirksamkeitsprüfung von Psychotherapie angewendet werden, komme ich zu einer deutlich positiveren Einschätzung sowohl der Wirksamkeitsforschung zur Erlebnispädagogik als auch zu deren Resultaten (vgl. Heekerens, 2006; im Druck). Außerdem unterscheidet sich meine Einschätzung der derzeitigen Situation der deutsch(sprachig)en Erlebnispädagogik (auch) von dieser „Einführung“ in mindestens zwei Punkten. Zum einen: Im 13. Kinder- und Jugendbericht für Deutschland, der die zentrale Empfehlung enthält, die Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen möge ein Ziel fachlichen Handelns in der Kinder- und Jugendhilfe sein. Die Erlebnispädagogik, die sich solche Förderung seit Hahnschen Zeiten auf die Fahne geschrieben hat und darin nachweislich (!) erfolgreich ist, wird in dem Bericht an keiner Stelle erwähnt! Nahezu niemand aus dem erlebnispädagogischen Lager hat darüber seine Verwunderung zum Ausdruck gebracht. Das seinerseits verwundert mich, denn ich sehe in dem beschriebenen Sachverhalt ein Warnsignal: Für ein gesellschaftlich bedeutsames pädagogisches Handlungsfeld wird die Erlebnispädagogik (regierungs-)offiziell für absolut unbedeutend erklärt. Zum anderen: Wenn die (deutschsprachigen) Alpinverbände über Risiko (und das Recht darauf) diskutieren, dann laden sie als Ideengeber keinen (als solchen ausgewiesenen) Erlebnispädagogen ein, sondern Siegbert Warwitz (von dem ich bislang in keiner seiner Schriften vernommen hätte, er sehe sich als Erlebnispädagoge) ein. Über das, was an Risiko pädagogisch wertvoll ist oder sein kann, sollte man doch als Hahn-Schüler (selbst noch der dritten, vierten oder fünften Generation) bestens Auskunft geben können. Auch dieses Ignoriertwerden von prominenter Seite hat in der deutsch(sprachig)en erlebnispädagogischen Szene zu keinem Aufschrei geführt (ein eventuelles stilles Stöhnen hört man ja nicht so weit). Das wundert mich, wird der deutschen Erlebnispädagogik doch hier die Butter vom Brot genommen, um eine eher zurück haltende Formulierung zu verwenden.
Für die deutsch(sprachig)e Erlebnispädagogik gibt es in den letzten fünf Jahren einige Bücher, die man als „Einführung“ anzusehen könnte:
„Erlebnispädagogik“ (2. Aufl., 2008) von Torsten Fischer und Jörg W. Ziegenspeck,
Werner Michels „Erlebnispädagogik“ (2. Aufl. 2011),
„Erleben und Lernen“ (7. Aufl., 2012) von Bernd Heckmair und Werner Michl,
Rainald Baig-Schneiders „Die moderne Erlebnispädagogik“ (2. Aufl., 2012) und das hier zu rezensierende Buch (das dem zuvor genannten beim ZIEL-Verlag unmittelbar nachfolgte).
Das Buch von Torsten Fischer und Jörg W. Ziegenspeck wurde in der Sammelrezension von Maya Kindler (2010) in der „Zeitschrift für Pädagogik“ aus inhaltlichen wie formalen Gründen „zerrissen“ – völlig zu Recht, wie ich meine; Werner Michls socialnet-Rezension dieses Buches ist als „wohl wollend“ zu werten. Gut hingegen schnitten in der Sammelrezension von Maya Kindler frühere Auflagen (1., 2009 bzw. 6. Aufl., 2008) des zweiten und dritten der o.g. Bücher ab; das steht in Übereinstimmung zu den socialnet-Rezensionen, die ich im letzten Jahr für die nachfolgenden Auflagen der beiden Bücher verfertigt habe. Baig-Schneiders Buch (vgl. die socialnet-Rezension von Holger Seidel) schließlich kann man schwerlich als „Einführung“ ansehen.
Dennoch: Braucht es angesichts mindestens zweier wohl etablierter „Einführungen“ noch eine dritte? Wäre das deutsche Verlagswesen planwirtschaftlich geregelt, fiele die Antwort wohl negativ aus. Unter marktwirtschaftlicher Perspektive sieht die Sache anders aus. Und in der Tat: Die vorliegenden drei Bücher, die man als „Einführungen“ in die Moderne Erlebnispädagogik ernst nehmen kann, sind in vielerlei Hinsicht so verschieden, dass der mögliche Käufer wirklich eine Auswahl hat und eine echte Entscheidung treffen kann. Die Verschiedenheit betrifft Unterschiedlich- bis Gegensätzlichkeit in der Sache. Während etwa Werner Michel (2011) meint, „der Begriff ‚Abenteuerpädagogik? (führe) auf eine falsche Fährte“ (S. 12), erklärt das vorliegende Buch Abenteuerpädagogik zu einem der „Teilbereiche der Erlebnispädagogik“ (S. 19). Und andererseits: Während Bernd Heckmaier und Werner Michl (2012) Fragen der Ökologie unter der Überschrift „Eine ‚unvermeidliche Schuld?? – Ökologie und Erlebnispädagogik immerhin knapp zehn Seiten widmen, sucht man eine Behandlung der „Ökologischen Frage“ im vorliegenden Buch vergebens.
Fazit
Das hier zu rezensierende Buch kann, als Einführung in die Erlebnispädagogik beurteilt, nicht pauschal als schlechter oder besser als die zwei anderen beurteilt werden. Daher gehört es, um Lücken zu schließen, die andere Einführungen gelassen haben, in mindestens einem Exemplar in die Bibliothek jeder Ausbildungsstätte für Erzieher, Sozialpädagogen und Sportwissenschaftler und mindestens ein weiteres Mal in den Handapparat aller Dozent(inn)en solcher Einrichtungen, die Erlebnispädagogik praktisch und/oder theoretisch im Lehrangebot haben. Zudem empfiehlt es sich bei dem relativ günstigen Kaufpreis allen an Erlebnispädagogik und einer vertieften Einführung darein interessierten Studierenden der genannten Fachrichtungen; gerade diese junge Leserschaft dürfte vom Layout des Buches sehr angetan sein. Und wer sonst auch immer sich einen Einblick in die deutsch(sprachig)e Erlebnispädagogik von heute verschaffen möchte, macht mit dem hier besprochenen Buch keinen Fehlgriff.
Ergänzende Literaturnachweise
Baig-Schneider, R. (2012) Die moderne Erlebnispädagogik (2. Aufl.). Augsburg: ZIEL (die erste Auflage erschien unter gleichem Titel 2010 im VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken).
Fischer, T. & Ziegenspeck, J.W. (2008). Erlebnispädagogik (2. überarb. Aufl.). Bad Heilbrunn:. Klinkhardt.
Heckmair, B. & Werner Michl., W. (2012). Erleben und Lernen (7. Auf.) München: Reinhardt.
Heekerens, H.-P. (2006). Wirksamkeitsforschung zur Erlebnispädagogik: Ergebnisse, Fragen, Anregungen. Zeitschrift für Erlebnispädagogik, 26(10), 3-57.
Heekerens, H.-P. (2012). Beziehungsgestaltung in der Erlebnispädagogik. erleben & lernen, 20(3&4), 54-57.
Heekerens, H.-P. (im Druck). Ergebnis- und Prozessforschung in der Erlebnispädagogik: Was man weiß, was man wissen sollte. erleben & lernen.
Heekerens, H.-P. & Ohling, M. (2005). Am Anfang war Otto Rank: 80 Jahre Experienzielle Therapie. Integrative Therapie, 31, 276-293.
Kandler, M. (2010): Besprechung Erlebnispädagogik. Zeitschrift für Pädagogik, 56, 437-440.
Michl, W. (2011). Erlebnispädagogik (2. Aufl.). Stuttgart: UTB.
Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
Homepage de.wikipedia.org/wiki/Hans-Peter_Heekerens