Rezension
Von Ursprüngen zu Grundlagen
Aus dem „Handbuch Erlebnispädagogik“, das „von den Ursprüngen bis zur Gegenwart“ geführt hat, ist in der zweiten Auflage „Erlebnispädagogik: Grundlagen des Erfahrungslernens“ geworden. Leider wird im Vorwort nicht klar, was verändert wurde, denn dies würde die Kaufentscheidung sicherlich beeinflussen. Einige Überschriften wurden geändert, sicherlich im Detail einiges präzisiert und das fünfte Kapitel erweitert. Der Umfang blieb fast der gleiche. Die Autoren begründen die Titeländerung mit dem Hinweis, wegen des veränderten „didkatische Aufbau(s)“ (didaktisch, W. M.) näher an den Text rücken wollen. Eigentlich schade, denn der Titel „Handbuch“ war doch etwas Besonderes!
Wegbereiter
Im ersten Abschnitt werden die „Wegbereiter“ der Erlebnispädagogik beschrieben. Die Autoren können hier auf einen Fundus an Publikationen zurückgreifen, in denen diverse Autoren bei reformpädagogischen Persönlichkeiten erlebnispädagogische Wurzeln entdeckten. Die Gemeinsamkeiten dieser Denker, Pädagogen, Psychologen und Praktiker werden in sechs Punkten zusammengefasst. Das Kapitel endet mit zehn „prospektiven Fragestellungen“, also Fragen, die vorausschauend gemeint sind. Diese Fragenkataloge ziehen sich als didaktische Methode durch das ganze Buch und sind gelegentlich auch bei ausführlicheren Unterkapiteln zu finden. Warum eigentlich nicht Kontrollfragen, die aufzeigen, was man verstanden oder vergessen hat? Trotzdem ist es eine gute Idee, an das Ende eines Kapitels anregende Fragen zu stellen.
Historische Wege, Bezüge und Netzwerke
Das zweite Kapitel beschreibt das „Erfahrungslernen im Spiegel der Jahrhunderte“. Ohne Zweifel hat sich bislang niemand die Mühe gemacht, systematisch von der Steinzeit bis zur SMS-Zeit diese Fragestellung zu bearbeiten. Wer den Erziehungsmethoden schriftloser Kulturen nachforscht, wird als Erlebnispädagoge immer fündig werden. Das ist nicht die Frage, eher ist es schwierig, diese Fülle des ethnologischen Materials in eine einheitliche Theorie zu packen. Allein Sammler und Jäger haben gänzlich unterschiedliche Formen der Erziehung, das Spektrum reicht von den friedlichen San (Buschleute) der Kalahari bis zu den höchst aggressiven Waika-Indianern. Und natürlich ist die Antike ein Füllhorn für das erlebnis- und handlungsorientierte Lernen. Wandelten doch die alten Philosophen diskutierend auf dem Peripatos, den Weg, der von der Agora, dem Marktplatz Athens, bis zur Akropolis führte. Gehen und philosophieren waren eng miteinander verbunden, ebenso Erziehung und der Weg zur Schule. Die Autoren setzen ihre historische Exkursion mit der musischen und körperlichen Charakterbildung im Mittelalter fort (S. 57), kommen von der Renaissance zur Aufklärung. Die Ausführungen zu Immanuel Kant sind, wie immer in diesem Werk, fundiert und ausreichend, trotzdem hätte durch einen kleinen Exkurs in Kants Traktat „Über die Erziehung.“ (1997 Frankfurt a. M., Suhrkamp) die Nähe des Philosophen der Deutschen zum erlebnisorientierten Denken aufgezeigt werden können. Bedenkt man, dass dieses Kapitel mehr 150 Seiten lang ist, - und auch das nächste 60 Seiten lange Kapitel ebenfalls historische Bezüge enthält - dann darf man feststellen, dass den Autoren dieser Weg von den Ursprüngen zur Moderne sehr am Herzen gelegen hat.
Von Rousseau zur Reformpädagogik
Der nächste Abschnitt ist der Reformpädagogik gewidmet. In der ersten Auflage von Heckmair, Michl „Einführung in die Erlebnispädagogik“ wurden Rousseau und Thoreau erstmals als Vordenker der Erlebnispädagogik bezeichnet. Inzwischen steht dies in hunderten von Diplomarbeiten und Fachbeiträgen, ist in Wikipedia nachzulesen, und auch Fischer, Ziegenspeck schließen sich dieser Meinung an. Trotzdem muss man sagen: im Sinne des Konstruktivismus ist das eine gute Konstruktion. Sie hält, bewiesen ist aber gar nichts. Dass die Kulturkritiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Friedrich Nietzsche, Paul de Lagarde und Julius Langbehn mit der Erlebnispädagogik verbunden werden, war vor etwa 15 Jahren Anlass von Kritikern, vor dieser Pädagogik mit diesen konservativen bis nationalen Wurzeln zu warnen. In diesem Abschnitt tauchen natürlich die Namen berühmter Reformpädagogen auf, wird Bezug genommen auf die Jugendbewegung mit der berühmten „Meissner Formel“, werden Entwicklungslinien der Pädagogik und Psychologie nachgezeichnet und schließlich die Erlebnistherapie Kurt Hahns beschrieben. Mit der Nachkriegszeit und den 60er Jahren kommt der historische Weg zu seinem Ende.
Wiederentdeckung
Die „Wiederentdeckung der Erlebnispädagogik“ verorten die Autoren vor allem in der Kurzschulbewegung, den United World Colleges und der Round Square Conference. Erst auf Seite 268 geht es um „Entwicklungsfelder der modernen Erlebnispädagogik“, also um die letzten 20 Jahre. Alle Facetten, von der Jugendarbeit bis zur Heimerziehung, von Segelprojekten bis zum Outdoor Development Training, werden gestreift. Liest man diese Passagen mit kritischen Augen, so entdeckt man in manchen sprachlichen Wendungen Wertungen, die andere Experten der Erlebnispädagogik mit Sicherheit anders sehen. Im letzten Abschnitt geht es um die Zukunftsorientierung der Erlebnispädagogik.
Fazit
Insgesamt liegt der Schwerpunkt in der historischen Entwicklung der Erlebnispädagogik. Die beiden Autoren haben mit gewohntem Fleiß und einem umfassenden Wissen eine Fülle von Material zusammengetragen, Ordnung und Bezüge und ein breites Fundament geschaffen. Vielleicht müsste man den Titel ergänzen: „… historische Grundlagen des Erfahrungslernens.“
Rezension von
Prof. Dr. Werner Michl
siehe https://www.socialnet.de/rezensionen/7073.php