Beschreibung
Erfahrungslernen in der Kontinuität der historischen Erziehungsbewegung
2. überarbeitete Auflage
ISBN 978-3-7815-1582-6
388 Seiten, Hardcover, Format ca. 15 x 21,5 cm
Originalbuch von Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn)
von Torsten Fischer und Jörg W. Ziegenspeck
Lernen in pädagogischen Situationen mit Ernstcharakter zielt auf eine Erziehung zur individuellen Verantwortung und sozialen Gebundenheit. Dieses Lernen ist Bildungsmaxime der Erlebnispädagogik, die in ihren reformpädagogischen und pragmatischen Wesenszügen das Erbe humanistischer Pädagogik und Psychologie erst in der Weimarer Republik antrat. Wie diese handlungs- und erlebnisorientierte Pädagogik in den gesellschaftlichen Erlebnistrends des 20. Jahrhunderts an Kontur gewinnen konnte, wie sich aus der ideengeschichtlichen Semantik der historischen Erziehungsbewegung ihre Identität ergab und ob sich ihre Selbst-behauptungen von einer „Neuen Erziehung“ begründen lassen, geht aus diesem Buch hervor.
Pädagogen vermuten, dass Erlebnispädagogik ihre Selbstbestimmung aus dem Verhältnis zwischen Kind und Natur ableitet und die folgenreiche Szene der Gleichaltrigen oder die emotionale Bindung zwischen Schülern und Lehrern den pädagogischen Kontext gar nicht voraussetzen. Doch kann Lernen in einer erlebnishaften Außenweltbeziehung ohne die normative Entschlüsselung des Individuums noch akademisch gedeutet werden? Dieser erlebnisbezogene und zugleich anthropologischen Fragestellung widmet sich dieses Buch, um die Programmatik der Erlebnispädagogik ideengeschichtlich beurteilen zu können.
Autoren
Dr. Jörg W. Ziegenspeck, geboren 1941, em .Professor für Erziehungswissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg
Dr. Torsten Fischer, geboren 1964, Professor für Erziehungswissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg
Rezension
Von Ursprüngen zu Grundlagen
Aus dem „Handbuch Erlebnispädagogik“, das „von den Ursprüngen bis zur Gegenwart“ geführt hat, ist in der zweiten Auflage „Erlebnispädagogik: Grundlagen des Erfahrungslernens“ geworden. Leider wird im Vorwort nicht klar, was verändert wurde, denn dies würde die Kaufentscheidung sicherlich beeinflussen. Einige Überschriften wurden geändert, sicherlich im Detail einiges präzisiert und das fünfte Kapitel erweitert. Der Umfang blieb fast der gleiche. Die Autoren begründen die Titeländerung mit dem Hinweis, wegen des veränderten „didkatische Aufbau(s)“ (didaktisch, W. M.) näher an den Text rücken wollen. Eigentlich schade, denn der Titel „Handbuch“ war doch etwas Besonderes!
Wegbereiter
Im ersten Abschnitt werden die „Wegbereiter“ der Erlebnispädagogik beschrieben. Die Autoren können hier auf einen Fundus an Publikationen zurückgreifen, in denen diverse Autoren bei reformpädagogischen Persönlichkeiten erlebnispädagogische Wurzeln entdeckten. Die Gemeinsamkeiten dieser Denker, Pädagogen, Psychologen und Praktiker werden in sechs Punkten zusammengefasst. Das Kapitel endet mit zehn „prospektiven Fragestellungen“, also Fragen, die vorausschauend gemeint sind. Diese Fragenkataloge ziehen sich als didaktische Methode durch das ganze Buch und sind gelegentlich auch bei ausführlicheren Unterkapiteln zu finden. Warum eigentlich nicht Kontrollfragen, die aufzeigen, was man verstanden oder vergessen hat? Trotzdem ist es eine gute Idee, an das Ende eines Kapitels anregende Fragen zu stellen.
Historische Wege, Bezüge und Netzwerke
Das zweite Kapitel beschreibt das „Erfahrungslernen im Spiegel der Jahrhunderte“. Ohne Zweifel hat sich bislang niemand die Mühe gemacht, systematisch von der Steinzeit bis zur SMS-Zeit diese Fragestellung zu bearbeiten. Wer den Erziehungsmethoden schriftloser Kulturen nachforscht, wird als Erlebnispädagoge immer fündig werden. Das ist nicht die Frage, eher ist es schwierig, diese Fülle des ethnologischen Materials in eine einheitliche Theorie zu packen. Allein Sammler und Jäger haben gänzlich unterschiedliche Formen der Erziehung, das Spektrum reicht von den friedlichen San (Buschleute) der Kalahari bis zu den höchst aggressiven Waika-Indianern. Und natürlich ist die Antike ein Füllhorn für das erlebnis- und handlungsorientierte Lernen. Wandelten doch die alten Philosophen diskutierend auf dem Peripatos, den Weg, der von der Agora, dem Marktplatz Athens, bis zur Akropolis führte. Gehen und philosophieren waren eng miteinander verbunden, ebenso Erziehung und der Weg zur Schule. Die Autoren setzen ihre historische Exkursion mit der musischen und körperlichen Charakterbildung im Mittelalter fort (S. 57), kommen von der Renaissance zur Aufklärung. Die Ausführungen zu Immanuel Kant sind, wie immer in diesem Werk, fundiert und ausreichend, trotzdem hätte durch einen kleinen Exkurs in Kants Traktat „Über die Erziehung.“ (1997 Frankfurt a. M., Suhrkamp) die Nähe des Philosophen der Deutschen zum erlebnisorientierten Denken aufgezeigt werden können. Bedenkt man, dass dieses Kapitel mehr 150 Seiten lang ist, - und auch das nächste 60 Seiten lange Kapitel ebenfalls historische Bezüge enthält - dann darf man feststellen, dass den Autoren dieser Weg von den Ursprüngen zur Moderne sehr am Herzen gelegen hat.
Von Rousseau zur Reformpädagogik
Der nächste Abschnitt ist der Reformpädagogik gewidmet. In der ersten Auflage von Heckmair, Michl „Einführung in die Erlebnispädagogik“ wurden Rousseau und Thoreau erstmals als Vordenker der Erlebnispädagogik bezeichnet. Inzwischen steht dies in hunderten von Diplomarbeiten und Fachbeiträgen, ist in Wikipedia nachzulesen, und auch Fischer, Ziegenspeck schließen sich dieser Meinung an. Trotzdem muss man sagen: im Sinne des Konstruktivismus ist das eine gute Konstruktion. Sie hält, bewiesen ist aber gar nichts. Dass die Kulturkritiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Friedrich Nietzsche, Paul de Lagarde und Julius Langbehn mit der Erlebnispädagogik verbunden werden, war vor etwa 15 Jahren Anlass von Kritikern, vor dieser Pädagogik mit diesen konservativen bis nationalen Wurzeln zu warnen. In diesem Abschnitt tauchen natürlich die Namen berühmter Reformpädagogen auf, wird Bezug genommen auf die Jugendbewegung mit der berühmten „Meissner Formel“, werden Entwicklungslinien der Pädagogik und Psychologie nachgezeichnet und schließlich die Erlebnistherapie Kurt Hahns beschrieben. Mit der Nachkriegszeit und den 60er Jahren kommt der historische Weg zu seinem Ende.
Wiederentdeckung
Die „Wiederentdeckung der Erlebnispädagogik“ verorten die Autoren vor allem in der Kurzschulbewegung, den United World Colleges und der Round Square Conference. Erst auf Seite 268 geht es um „Entwicklungsfelder der modernen Erlebnispädagogik“, also um die letzten 20 Jahre. Alle Facetten, von der Jugendarbeit bis zur Heimerziehung, von Segelprojekten bis zum Outdoor Development Training, werden gestreift. Liest man diese Passagen mit kritischen Augen, so entdeckt man in manchen sprachlichen Wendungen Wertungen, die andere Experten der Erlebnispädagogik mit Sicherheit anders sehen. Im letzten Abschnitt geht es um die Zukunftsorientierung der Erlebnispädagogik.
Fazit
Insgesamt liegt der Schwerpunkt in der historischen Entwicklung der Erlebnispädagogik. Die beiden Autoren haben mit gewohntem Fleiß und einem umfassenden Wissen eine Fülle von Material zusammengetragen, Ordnung und Bezüge und ein breites Fundament geschaffen. Vielleicht müsste man den Titel ergänzen: „… historische Grundlagen des Erfahrungslernens.“
Rezension von
Prof. Dr. Werner Michl
siehe https://www.socialnet.de/rezensionen/7073.php
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
0 Vorwort zur zweiten Auflage 7
1 Wegbereiter der Erlebnispädagogik 9
2 Erfahrungslernen im Spiegel der Jahrhunderte 33
2.1 Natürliche und praktische Erziehungsformen in urgesellschaftlichen Lebenszusammenhängen 33
2.2 Atomistik, Sophistik und Naturphilosophie im Altertum und das Prinzip der Kalokagathie 40
2.3 Musische und körperliche Charakterbildung im Mittelalter 57
2.4 Frühbürgerliche Erziehungsideale in der Renaissance, im Humanismus und zur Zeit der Reformation 68
2.5 Panosophie, Rationalismus, Sensualismus und Pietismus als Beiträge eines praktischen Erfahrungslernens 85
2.6 Das Zeitalter der Aufklärung - die Idee natürlicher Erziehung bei Rousseau 100
2. 7 Zum handlungsorientierten Erfahrungslernen im Philantropismus, Neuhumanismus und in der Nationalerziehungsbewegung 117
2.8 Die deutsche Klassik und das harmonische Menschenbild in der pädagogischen Klassik 142
2.9 Das 19. Jahrhundert im Spiegel der Schulreformen, ihrer sozialen Utopien und positivistischen Ansätze 163
3 Reformkritik der Erlebnispädagogik 189
3.1 Die pädagogischen Reformbestrebungen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und die kulturkritische Bewegung 189
3.2 Erlebnisorientierte Schulideen im 20. Jahrhundertdargestellt an den Entwicklungs- und Innovationslinien der internationalen Schulbewegung Kurt Hahns 221
3.2.1 Reform- und Erlebnispädagogik: 1920-1933 228
3.2.2 Erlebnispädagogik im Nationalsozialismus: 1933-1945 242
3.2.3 Erlebnispädagogik und die internationale Kurzschulbewegung: 1945-1960 252
4 Wiederentdeckung der Erlebnispädagogik 257
4.1 Schulbezogene Erlebnispädagogik in den Kurz- und Internatsschulen 257
4.2 Entwicklungsfelder der modernen Erlebnispädagogik 268
5 Zukunftsorientierung der Erlebnispädagogik 297
5 .1 Erlebnispädagogik und Schulreform 297
5.2 Erlebnispädagogik und Bildungsreform 302
6 Anhang 317
6.1 Quellen und Anmerkungen 317
6.2 Literaturverzeichnis 355
6.3 Personenregister 379
6.4 Sachwortregister 383
6.5 Angaben zur Person der Autoren 388