Klappentext
Geschichten, um einander mit anderen Augen zu sehen
von Lilly Haller
Ich bin 16 Jahre alt und das, was man ein körperlich schwer behindertes Kind nennt.
Ich kann nicht sprechen und meinen Körper kann ich nicht so bewegen, wie ich es gerne tun würde.
Das macht es immer sehr schwer. Ich muss mich immer darauf verlassen, dass die Menschen, die bei mir sind, gut aufpassen, ob ich auch gut sitze oder liege.
Manchmal würde ich gerne mit meinem Körper davonlaufen, das geht aber nicht. Oft ist es sehr schwer für mich, weil mich viele als ein körperlich behindertes Mädchen sehen, das ganz klar auch geistig behindert sein muss.
Ich war immer gierig nach Buchstaben und Zahlen, aber das wusste niemand, bis Mama angefangen hat, mit mir Buchstaben und Wörter zu lernen. Sie hat meine Freude bemerkt und immer weitergemacht …
Presse & Rezensionen
Ein Wunder namens Lilly
Eine körperlich schwer behinderte junge Frau aus Grünenbach beweist großen Lebensmut und veröffentlicht ein Buch. Sie war geistig vollkommen präsent, konnte sich aber viele Jahre nicht ausdrücken. Wie KI ihr weiterhelfen könnte.
Lilly Haller hat ein Buch geschrieben. Nun könnte man dies für eine alltägliche Nachricht halten – ist es aber nicht. Es ist auch kein gewöhnliches Buch – so wie Lilly kein gewöhnliches Mädchen ist. Lilly ist 16 Jahre alt und das, was man ein körperlich schwer behindertes Kind nennt. Aber in ihrem Körper, der vieles nicht kann, steckt ein kluges Mädchen. Mit einem wachen Geist, klarem Verstand und einem großen Herzen.
Eigentlich ist die Geschichte von Lilly ein Weihnachtsmärchen - von einem Mädchen, das in einem Turm eingeschlossen war und befreit wurde. Ein Märchen, in dem es um sehr viel Liebe geht. Der Turm ist ihr eigener Körper, in dem sie den größten Teil ihres bisherigen Lebens gefangen war, weil sie keinen Weg, keine Sprache hatte, um zu kommunizieren. Obwohl sie geistig vollkommen präsent ist. Lillys Buch heißt „Aus dem Herzen, für die Seele. Geschichten, um einander mit anderen Augen zu sehen“.
Lilly kam vor gut 16 Jahren als dritte Tochter von Heike und Wolfgang Haller zur Welt. Ihre Schwestern Lena und Anna waren damals zwölf und zehn Jahre alt. Lillys Ankunft, nach einer völlig unauffälligen Schwangerschaft, stellte das Leben der Grünenbacher Landwirtsfamilie auf den Kopf. Schwere Komplikationen und Sauerstoffmangel bei der Geburt überlebte Lilly nur knapp. Es blieb eine schwere Hirnschädigung zurück. Dyskinetisch-spastische Zerebralparese und neuromuskuläre Skoliose lautete die Diagnose. „Sie wird euch nie wahrnehmen“, haben die Ärzte den Eltern beim Verlassen der Klinik erklärt. Eine Fehlprognose, wie sich herausstellen sollte.
Lillys Eltern haben die Aussage nie für sich angenommen. Sie haben Lilly gefördert mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Reittherapie, Logopädie, Ergotherapie und vieles mehr gehören seit 16 Jahren zum Tagesprogramm und greifen ineinander.
Lilly wuchs in einer liebevollen Familie auf einem großen Bauernhof auf. Dennoch war sie allein in sich: „Ich war lange Zeit gefangen in mir. Ich war mit mir ganz allein und niemand konnte zu mir herein. Manchmal hatte ich große Angst, die Tür würde niemals gefunden…“, schreibt Lilly heute. Doch sie wurde gefunden. Nach und nach.
2019 nahm Lilly mit ihrer Mama an einem Forschungsprojekt der Musiktherapeutin Brigitte Meier-Sprinz und ihres Ehemannes, dem Kinder-Neurologen Andreas Sprinz aus Kempten teil. Im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass es für Lilly möglich ist, einen Muskel im Oberarm so zu bewegen, dass die Bewegungen nicht permanent von Spastik und Dystonie überlagert werden. Ihre Mutter unterstützte und verstärkte diese minimalen Bewegungen. Lilly begann, bestimmte rhythmische Muster zu wiederholen und übte die Bewegungen in der Ergotherapie.
Die Tür zur Kommunikation und damit zur aktiven Teilhabe am Leben ging auf. Es stellte sich heraus, dass Lilly bereits mit Buchstaben umgehen und lesen konnte und so über Sprache und Schrift verfügt. Lilly begann sich mit Hilfe ihrer Mutter unter Verwendung von bunten Buchstabenkarten auszudrücken. Seither schreibt sie beeindruckende Texte über ihr Erleben.
Ihr Buch ist voller bunter Bilder, die Freundinnen zu Lillys Geschichten gemalt haben. Die Entstehung des Buches sei für Lilly wie eine Reise gewesen. Nun gehen ihre Geschichten auf die Reise - zu den Menschen, die sie lesen. Ihnen gewähren sie Einblicke in die Gefühlswelt einer tapferen jungen Frau, die eingesperrt in ihren Körper bei klarem Verstand viele Jahre auf Befreiung gewartet hat, außer Stande, ihre Gedanken auszudrücken.
Bei der Vorstellung des Buches liest Lillys Mama Heike einen Brief ihrer Tochter vor - denn Lilly benötigt nach wie vor jemanden, der ihr eine Stimme leiht. Buchstaben und Worte, die Fähigkeit lesen und schreiben zu können – und die Entdeckung, wie sie diese nach außen transportieren kann, verleihen ihr dennoch inzwischen die Möglichkeit, ihre Gefühle und Gedanken mitzuteilen. „Die Zeit war sehr lange, in der ich nichts sagen konnte. Ich bin unendlich dankbar, dass ich jetzt sagen kann, was ich will, was ich denke und fühle. Es ist ein gutes Gefühl ernst genommen zu werden.“ Denn das sei für sie furchtbar gewesen – zu erkennen, dass sie völlig unterschätzt wurde – dass die Menschen von ihrem behinderten Körper auf ihren Geist schlossen.
„Sprache verbindet die Menschen. Wenn Sprache fehlt, müssen die Menschen gut aufeinander achtgeben, denn Denken und Fühlen kann man auch ohne zu sprechen“, liest ihre Mama Lillys Worte. Die Zeit als stummer Zuschauer sei schwer gewesen. „Ich war oft sehr verzweifelt und von Traurigkeit umgeben.“ In Gedanken verfasste sie kleine Geschichten, in die sie ihre Sorgen und Nöte, aber auch ihre Freude, Liebe und Dankbarkeit verpackte. Wie gut habe es sich dann angefühlt, als sie die Geschichten mit Hilfe ihrer Mama aufschreiben konnte.
Und heute? Lilly komponiert, nennt Musik „Töne, die die Seele streicheln“, schreibt und macht die mittlere Reife. Sie habe noch so viele Worte und Geschichten in ihrem Kopf, die heraus wollen, sagt Lilly - aber sie muss warten, bis ihre Mama Zeit zum Schreiben hat.
Das könnte sich bald ändern, denn im Frühjahr wurde der Verein „Voice for Lilly“ gegründet, mit dem Ziel, eine Möglichkeit zu finden, wie Lilly mit Hilfe von Computertechnik und künstlicher Intelligenz selbständig schreiben und sprechen könnte. Diese Erfindung könnte vielen anderen Menschen, die wie Lilly in ihrem Körper gefangen sind und sich nicht mitteilen können, eine Stimme geben. Erste Prototypen sind bereits entwickelt.
Mehr im Internet: www.voice-for-lilly.de
So lief die Buchvorstellung
Das Buch von Lilly ist bei einer Veranstaltung in Grünenbach vorgestellt worden. Dabei begleitete sie Brigitte Meier-Sprinz gemeinsam mit ihrer Mutter am Xylofon. Das Lied, dessen Text Lilly selbst geschrieben hat, heißt „Das bin ich“.
Michael Rehm, der Lektor für das Buch war, konnte bei der Präsentation kaum reden vor Rührung. „Viele Jahre wurde nur über dich gesprochen und selten mit dir – dabei können wir so viel von dir lernen. Demut gehört sicher dazu. Du zeigst uns, dass ein Mensch viel mehr ist als das, was wir sehen. Und dass wir das Geschenk eines gesunden Körpers viel mehr wertschätzen müssen.“ Er habe schon viele ungewöhnliche Buchprojekte veröffentlicht, aber Lillys Geschichte sei unfassbar.
Das körperlich behinderte Mädchen Lilly Haller hat ein Buch geschrieben, das im Ziel Verlag unter der ISBN 978-3-96557-134-1 erhältlich ist.
Fotos: Susi Donner
Lillys Mama Heike liest die Botschaft vor, die Lilly für die Feier der Buchpräsentation verfasst hat. Papa Wolfgang hält seiner tief berührten Tochter die Hand.
Lillys Schwester Anna leiht Lilly ihre Stimme und liest für sie eine Geschichte aus Lillys Buch „Aus dem Herzen, für die Seele – Geschichten, um einander mit anderen Augen zu sehen“..
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Susi Donner.
Freie Journalistin für Text und Bild.
Mobil: 0049 151 569 79 369
Ein Wunder namens Lilly
Wie ein körperlich schwer behindertes Mädhcen Licht und Liebe in die Welt bringt und ein Buch veröffentlicht
Werner Michl in e&l - erleben und lernen, Ausgabe 1/2024, S.32
„Wunder gibt es immer wieder“ trällerte einstmals Katja Ebstein. Der Schlager war der deutsche Beitrag zum Eurovision Song Contest 1970, wo er den dritten Platz bekam. Ich habe diese Schnulze schon 1970 unter dem Motto Herz aus Glas in die geistige Mottenkiste verfrachtet. Jetzt gilt es von einem Wunder zu berichten, das berührt und bewegt. Lilly Haller ist von Geburt an schwer körperlich behindert, und viele Fachleute meinten auch, dass sie geistig schwer behindert sei. Denn die kleine Lilly hatte weder die Sprache zur Verfügung noch Mimik und Gestik. Sie konnte sich kaum bewegen, ihr Körper war ihr Gefängnis. Es hat lange gedauert, bis die unermüdliche Mutter merkt, dass Lilly mehr versteht als man vermutet, ja sogar lesen kann. Und dann erfand die Mutter eine Möglichkeit, mittels eines besonderen Alphabets, Texte von Lilly zu schreiben. Ihre Mutter muss man als einfach als Heldin feiern, die weit mehr beeindruckt als so mancher egozentrische Exremkletterer.
Die Expertinnen und Experten haben sich geirrt, denn Lilly Haller ist gescheit, gebildet, voller Geschichten und auch fröhlich und frech. Ihrem Kinderarzt schreibt sie: „Du Spaßvogel.“ Der liest das, fängt zu lachen an, und dann weint er vor Freude (S. 12). Auch als Rezensent bekommt man bei diesem Abschnitt feuchte Augen. Es folgt eine Lesereise mit bunten Bildern, kurzen Geschichten und Gedichten. Die Geschichtensammlung wird ergänzt durch „Wunschgeschichten“ und „Weihnachtsgeschichten.“ Jede Leserin wird in dieser Schatzkiste ihre Perlen finden, hier nur drei Beispiele.
„Der Gärtner“, der seine Arbeit liebt, wird von einem reichen Kunden überzeugt, dass mit Maschinen alles leichter geht, dass der Ertrag gesteigert werden kann und er dann mehr Freizeit hat. Am Ende der Geschichte wacht er schweißgebadet auf und ist sich sicher: „Alles bleibt so, wie es ist.“ (S. 31).
Eine Gedichtzeile bleibt unvergessen:
„… Einmal kann ich mit den Wolken über die Erde fliegen, durch alle Jahreszeiten, bis ich wieder im Frühling ankomme.“ (S. 35)
Ganz bezaubernd sind auch die Weihnachtsgeschichten. Den „Weihnachtsengel“ (S. 71) können nur Kinder sehen, und dann legt der Weihnachtsengel seine „Flügel um die ganz kleinen Kinder, bis die Liebe um sie war.“
Ein ganz großer Dank geht an den ZIEL-Verlag, an Michael Rehm und Alex Ferstl, die mit Feuereifer diese Veröffentlichung unterstützt haben, auch wenn sie in keine Buchreihe passt. Es sind zwei mutige Verleger, Unternehmer, Pädagogen, die auf dem umkämpften Buchmarkt ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Sie sollten beim nächsten internationalen Kongress zusammen mit Lilly Haller den ersten Preis in Kategorie Publikationen und den einzigen Preis in der Kategorie Persönlichkeit bekommen.
Im „Froschkönig“ wird der Frosch zum Prinzen – und Lilly wird, fast wie im Märchen, zur Autorin. Das Märchen beginnt mit dem Satz: „In den Zeiten als das Wünschen noch geholfen hat.“ Es wäre ein Wunsch, dass Lilly weiterhin ihrer Mutter Geschichten erzählt, damit wir alle irgendwann die neuen Geschichten lesen können.