Klappentext
Erziehungshilfen in Europa über Grenzen hinweg – wie kann das gelingen? Das überwiegend in Deutschland entwickelte Arbeitsfeld grenzüberschreitender individueller Hilfen hat sich in den vergangenen 30 Jahren als ein facetten- und chancenreicher Ansatz etabliert.
Die heterogene Rechtslage sowie die kulturellen Verschiedenheiten im herrlich bunten Europa erfordern allerdings ein hohes Maß an gelingender Kooperation, um diese Hilfen erfolgreich zu steuern und durchzuführen.
Ziel der vorliegenden Publikation ist es, eine aktuelle Bestandsaufnahme zum Arbeitsfeld zur Verfügung zu stellen. Angesprochen und eingeladen werden sollen vor allem europäische Akteure in der Absicht, die zwischenzeitlich mitunter sehr festgefahrenen Dialoge neu zu beleben.
Die Publikation wird von den beiden deutschen Dach- und Fachverbänden Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. (be) und Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e.V. (AIM) herausgegeben.
Rezension
Alex Ferstl:
Ein längst überfälliges Buch zu einer zu lange vernachlässigten Diskussion!
Waldemar Vanagas:
Kaum eine Debatte in den Hilfen zur Erziehung wird so stark ins Feld der Unsagbarkeiten verschoben wie jene um die individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen. In der Tradition erlebnispädagogischer Ansätze und Arbeitsweisen wurzelnd, zeigt sich die Individualpädagogik als soziale Hilfsform insbesondere für Kinder und Jugendliche, die durch die Familie, weitere Bezugspersonen und institutionalisierte Settings nicht oder nicht mehr erreicht werden. Wo andere Hilfsformen an ihre Grenzen stoßen, findet die Individualpädagogik Ansätze und zeigt in 1:1 oder 1:2 Betreuungssettings, dass es Möglichkeiten gibt Systeme zu erschaffen, die nicht gesprengt werden. Statt stigmatisierend von systemsprengenden Kindern und Jugendlichen zu sprechen, womit der Fokus auf den nicht-greifbaren Zögling gelegt wird, beweist Individualpädagogik, dass die Systeme selbst im Schlaglicht stehen sollten und hinsichtlich ihrer Lebbarkeit hinterfragt werden müssten.
Heike Lorenz und Michael Brendt versammeln in ihrem – durch die beiden Fachverbände AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e. V. und Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e. V. – herausgegebenen Sammelband »Grenzen Los Erziehen. Erfolgreiche Jugendhilfe in Europa« eine diverse und interdisziplinäre Autor*innengruppe. Der Sammelband umfasst eine umfangreiche Beschreibung sowie Analysen aktueller Rahmenbedingungen individualpädagogischer Maßnahmen in grenzüberschreitenden Kontexten, wodurch sie einen offenen und breiten Diskurs initiieren.
Die Veröffentlichung gliedert sich in drei Kapitel. Das erste Kapitel »„Das wahre Leben“ – Praxis in der Individualpädagogik« eröffnet die Autor*innengruppe mit Erfahrungsberichten, womit der subjektive status quo aller an individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen beteiligten Akteure ermittelt wird. Besonders hervorzuheben sind die Berichte der Kinder und Jugendlichen, die an individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen in der Vergangenheit teilnahmen oder aktuell teilnehmen sowie die Berichte der Eltern, Mitarbeitenden der Projektstellen und Jugendamtsmitarbeitende, in welchen diese von ihren Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen während und nach individualpädagogischen Auslandsmaßnahmen berichten. Vor allem die Erfahrungsberichte der Kinder und Jugendlichen offenbaren eine Divergenz aus persönlichem Widerstand und Vulnerabilität. In Summe zeigt der Sammelband, dass sich eine adäquat unterstützende Erziehung dieser Zielgruppe nur unter individualpädagogischen Rahmenbedingungen in Auslandssettings ermöglichen lässt.
Das zweite Kapitel “Wie entsteht gute Qualität?“ Rahmenbedingungen für die Arbeit im Ausland« erweitert die Erfahrungsberichte um ein theoretisches Fundament und diskutiert Professionsansätze, aktuelle institutionelle Rahmenbedingungen wie das Schengener Abkommen, die UN-Kinderrechtskonvention sowie Leitlinien für alternative Formen der Betreuung und erläutert, wie gelingende Kooperationsbeziehungen aller involvierter Akteure aussehen können. Dies geschieht nicht ohne die Forderungen nach einer idealtypischen Umsetzung und Utopie einer paritätisch-internationalen Jugendhilfe, die nicht weniger als die Erziehung des Mündels zu einem*einer aufgeklärten demokratischen Weltbürger*in mit gesellschaftlichem Teilhabestreben zum Ziel setzt. Aushandlungsprozesse und Freiheitserlebnisse sollen nicht nur privilegierten Kindern und Jugendlichen in Form von Auslandsaufenthalten zugestanden werden, sondern in gleichem Maße zur Entstigmatisierung sozial Benachteiligter führen, die besonderer institutioneller Unterstützung bedürfen.
Der Sammelband wird abgeschlossen durch das dritte Kapitel »“Europäischer Brückenbau“ – Über Diskrepanzen zwischen den nationalen Rechtssystemen und Möglichkeiten ihrer Überwindung«, das mit dem »Rechtsgutachten zum Konsultationsverfahren bei grenzüberschreitender Unterbringung nach der VERORDNUNG (EU) 2019/1111 DES RATES vom 25. Juni 2019« von Reinhard Wiesner das Herzstück und die Initialzündung des Werks mit seiner Rahmung bildet.
Kritisieren lässt sich dieser Sammelband aufgrund der Mixed-Methods-Herangehensweise, wodurch sich zeitweise ein starker Hang zur Deskriptivität offenbart. So werden teils strittige Thesen eingebracht und nicht in vollem Umfang bearbeitet, weshalb sie ihren Impuls nicht nutzen und so schlicht in der Fülle untergehen. Darin lässt sich jedoch ebenfalls die größte Stärke des Sammelbands erkennen, da nur so die notwendigen Voraussetzungen und Wünsche aller relevanten Persönlichkeiten sowie involvierter Institutionen repräsentierbar werden und Leser*innen ermöglicht wird, die Ansätze weiterzudenken und in ihre eigene Arbeit einbinden zu können. Die Veröffentlichung vermittelt nicht nur ein umfangreiches Verständnis der Forderungen, indem es eine weitreichende Argumentationslogik offenbart, sondern legt darüber hinaus konkrete Ansätze für eine Umsetzung an die Hand.
Der Autor*innengruppe ist eine überzeugende Forderung der Notwendigkeiten für eine »Erfolgreiche Jugendhilfe in Europa« gelungen, in dem sie interdisziplinäre Perspektiven integriert und somit einen Wissenstransfer und öffentlichen Diskurs ermöglicht. So wird dieser Sammelband zu einer spannenden und informativen Lektüre für interessierte Eltern, Pädagogig*innen und Entscheidungsträger*innen in deutschen und europäischen Institutionen und Behörden.
Waldemar Vanagas, Erziehungswissenschaftler, Philosoph und Geschlechterforscher, Wissenschaftlicher Referent und Leiter der Geschäftsstelle des AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e. V. mit Sitz in Köln. Arbeitsschwerpunkte: Bildungs-, Rassismus- und Geschlechterforschung sowie Professionalisierung außerschulischer Akteure, insbesondere Kinderschutz und intersektionale Diskriminierungsforschung in den Hilfen zur Erziehung.